Nun soll die epidemische Lage von nationaler Tragweite am 25. November also auslaufen, danach dürfen aber jene Instrumente weiter angewendet werden, die sich bislang auf die Feststellung der epidemischen Lage beziehen. Mit anderen Worten: Der Ausnahmezustand wird aufgehoben, um ihn mit anderen Mitteln fortzusetzen. Natürlich ist das komplett bescheuert, aber auch begründbar.
Die Logik dieses Vorschlags ist ganz leicht zu verstehen. Eine neue Bundesregierung bildet sich und die Parteien, die sie ins Amt bringen wollen, lehnten in der Coronafrage die Strategie der alten Regierung eher ab. Nun die epidemische Lage noch einmal zu verlängern, käme da einem Kurswechsel gleich. Man müsste sich unter Umständen vorhalten lassen, nach der Wahl anders zu handeln, als vor der Wahl versprochen, wobei der Coronakomplex nahezu vollständig aus dem Wahlkampf herausgehalten wurde. Jetzt weiß man auch warum.
Eine lästige Angelegenheit
Der Umgang mit der epidemischen Lage ist zu einer lästigen Angelegenheit geworden, da sie jedes Mal aktiv vom Bundestag verlängert und begründet werden muss. Im letzten Antrag der Großen Koalition vom 25. August steht, dass eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems weiterhin nicht ausgeschlossen werden könne. Inzwischen ist aber klar, dass die Krankenhäuser weniger unter den an Corona Erkrankten leiden, als ganz allgemein unter der politisch zu verantwortenden Personalmisere, die die Zahl der belegbaren Betten weiter schrumpfen lässt. Es gibt immer weniger Pflegefachkräfte, die unter den gegebenen Bedingungen noch in Vollzeit arbeiten wollen.
Genauso schlimm sieht es in den Pflegeeinrichtungen aus, so dass auch dort wieder Infektionen vermehrt um sich greifen. Natürlich werden nun wieder die Ungeimpften als Schuldige ausgemacht. Nur änderte auch eine Erhöhung der Impfquote nichts an den strukturellen Problemen, die schon lange vor Corona bestanden und durch das Virus lediglich noch einmal deutlich zu Tage getreten sind. Die Feststellung einer epidemische Lage konnte die Zuständigkeiten für diese unhaltbaren Zustände mehr oder weniger zukleistern. Es führt aber kein Weg mehr daran vorbei, Verantwortung zu übernehmen.
Das droht nun vor allem den Ländern, die sich dank der epidemischen Lage eher bequem zurücklehnen und als Vollzugsorgan tätig werden konnten. In der Regel dienten neben der Feststellung des bundeseinheitlichen Ausnahmezustandes die Verabredungen in den Ministerpräsidentenkonferenzen als Geschäftsgrundlage. Nun müssen die Länderchefs aber wohl wieder ihre eigenen Parlamente mehr beteiligen, statt sie nur zu unterrichten. Das wäre immerhin ein Fortschritt und für manchen Abgeordneten, der mittlerweile seit über einem Jahr hinter Glaswänden im Plenarsaal hockt, die Chance, sein Mandat endlich wieder vernünftig wahrzunehmen, statt es nur zu schwänzen.
Auf Hysterie folgt Aktionismus
Das Corona-Thema ist auch deshalb so lästig, weil die Diskussion vollkommen irrational abläuft. Hysterie und blinder Aktionismus bedingen einander. Kaum steigen die Infektionszahlen wird schon wieder nach der nächsten Verschärfung von Regeln gerufen, meist für Ungeimpfte, oder gar ein weiterer Corona-Sondergipfel gefordert. Man muss halt irgendetwas tun. Der geschäftsführende Gesundheitsminister schlägt die Booster-Impfung für alle vor. Dabei ist immer noch dringend angezeigt, endlich einmal das Wissen zu boostern, wie der Medizinstatistiker Gerd Antes es seit langem fordert. Man könnte aber auch eine Rückkehr zur Ehrlichkeit darunter verstehen.
Denn mittlerweile ist ein gesellschaftliches Klima geschaffen worden, in dem es als verpönt gilt, ohne ein Zertifikat zu sein. Menschen werden zunehmend ausgeschlossen, weil sie nicht geimpft sind. Dabei ist mit der „vollständigen Immunisierung“ gegen die vorherrschende Delta-Variante des Virus kein wirklicher Infektionsschutz mehr verbunden. Zwei der angeblich so „zuverlässigen Impfstoffe“, Astra Zeneca und J&J, haben sich gegen die Delta-Variante als komplette Versager entpuppt. Trotzdem tourten vor kurzem noch die Impfbusse durch die Gegend und warben mit nur einem Piks für die Freiheit. Inzwischen ist klar, ohne mRNA Booster ist diese Impfung sinnlos.
Ehrlicherweise müsste man diesen Geimpften ihren Status wieder entziehen, was sich bislang aber noch niemand traut, weil es eben nicht um Gesundheit, Eindämmung des Infektionsgeschehens oder gar um Wissen geht, sondern nur um ein Wohlverhalten der Regierung gegenüber, die das wiederum belohnen muss, um die Gefolgschaft der Geimpften nicht zu verlieren. Dass die Impfung der Weg aus der Pandemie sei, hat schließlich die Politik so entschieden. So gilt auch immer häufiger die 2G-Regel, die im Grunde nichts anderes ist, als die Erlaubnis zur politisch korrekten und damit anständigen Infektion mit dem Coronavirus. Wenn dabei schwere Verläufe vermieden werden, gilt das bereits als Erfolg.
Moral statt Risikokompetenz
Das hängt vermutlich vom verwendeten Hersteller ab. Leider wird bei den sogenannten Impfdurchbrüchen nicht differenziert. Stattdessen zeigt man sich immer häufiger überrascht darüber, wenn Infektionen unter „vollständig Immunisierten“ auftreten. Die Begriffe sind falsch und der damit vermittelte Eindruck ebenso. Die Impfung sorgt eben nicht für einen vollständigen Schutz, sondern senkt ein persönliches Risiko schwer zu erkranken, das weiterhin in Abhängigkeit zum Alter und zu weiteren Vorerkrankungen gesehen werden muss. Merkwürdig ist daher die Annahme, dass die Impfung der übrigen Bevölkerung, vor allem der Kinder und Jugendlichen, irgend einen Beitrag zum Schutz der gefährdeten Alten leiste.
Wenn rund 15 Prozent der über 60-Jährigen nicht geimpft sind, hilft es auch nichts, 100 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu impfen, da es nun einmal gar keinen Fremdschutz gibt. Bei den Älteren wirkt die Impfung vor einem schweren Verlauf dagegen sehr gut. Sie bremst aber eben nicht die Verbreitung des Virus insgesamt und kann daher auch keine Lösung für die Politik sein, die sich in eine pandemische Sackgasse hineinmanövriert hat und von dort aus nur noch mit Moral antwortet, obwohl Risikokompetenz erforderlich wäre. Zum Beispiel ist es sinnvoll, Tests wieder kostenlos anzubieten, was aber nicht für Ungeimpfte geschehen wird. Die müssen ja für ihre „freie“ Entscheidung, die nichts weiter als ein Ausdruck von Ungehorsam ist, weiterhin mit gesellschaftlicher Ausgrenzung oder einem Griff ins Portemonnaie bestraft werden.
Da gilt das neoliberale Abstandsgebot, wonach der Geimpfte für sein Wohlverhalten mehr in der Tasche haben muss, als derjenige, der die schwere Last eines Impfarms nicht auf sich genommen hat. Kurioserweise hält man diesen Mechanismus immer noch für solidarisch. Gut möglich, dass es daher genau so kommt. Beispiele gibt es ja bereits. Wichtig ist ohnehin etwas anderes. Das Gesundheitssystem hat der Gesellschaft zu dienen und nicht umgekehrt. Wichtigste Aufgabe von Politik ist es daher nicht, zwischen 2G, 3G, Gratistests oder Lockdowns zu entscheiden, sondern die Bedingungen zu verbessern, dass das Gesundheitssystem insgesamt leistungsfähiger und krisenfester wird. Dass das der neuen Bundesregierung gelingen könnte, scheint gegenwärtig aber noch sehr zweifelhaft.
Bildnachweis: Screenshot, Tagesschau via YouTube, 27.10.2021
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.