Die apokalyptischen Szenarien, die bisher nie eingetreten sind, stellen sich auch weiterhin nicht ein. Natürlich hat der Kanzleramtsminister aus seiner Sicht trotzdem alles richtig gemacht, als er über die vierte Welle nachdachte und dabei eine Inzidenz von 800 für wahrscheinlich hielt. Die Warnung, die mal wieder einem bekannten Modell entsprang, habe schließlich dabei geholfen, dass das Szenario nicht so eingetreten sei. Wie praktisch, wenn die Politik immer recht hat, egal wie die Sache ausgeht. Es gibt natürlich auch eine andere Erklärung neben der, dass das Schlimmste vielleicht doch noch eintreten könnte. Es ist zur Gewohnheit geworden, sich in eine Hysterie hineinzusteigern und ist nun Gefangene der eigenen Lügen.
Kann man nicht alle Maßnahmen aufheben, am 31. Oktober zum Beispiel, wie der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, fordert? Nein, natürlich nicht. Es gibt lautstarken Widerspruch. Dieser Vorschlag sei geradezu unerhört und unverantwortlich, da man Menschen einfach so gefährde. Alles, was Rang und Namen hat, meldet sich daher zu Wort. Eine Welle der Empörung baut sich auf, die so stark ist, wie die vierte Coronawelle laut Helge Braun zum jetzigen Zeitpunkt schon hätte sein müssen. Je größer die Ablehnung, desto eindeutiger scheint der Verbandschef aber einen wunden Punkt getroffen zu haben. Und der ist auch vollkommen klar. Der in einem Regelungschaos feststeckende Regierungsapparat hat einfach kein vernünftiges Ausstiegsszenario entwickelt.
Klar wird ständig darauf hingewiesen, dass die Impfquote zu niedrig sei und einen bestimmten Wert erst erreichen müsse, eine klare Festlegung, dass ab diesem Punkt alle Maßnahmen beendet würden, gibt es aber nicht. Inzwischen wird schon über bald mögliche Impfangebote für Kinder unter 12 Jahren sinniert, was auf eine weitere Verschiebung von Zielmarken bis ins nächste Jahr hindeutet. Auf der anderen Seite bleibt offen, was denn nun passiert, wenn die vagen Vorgaben gar nicht erreicht werden. Die Politik stellt es nun so dar, als hänge alles von den Ungeimpften ab. Sie verhinderten eine Rückkehr zur Normalität. Das Verursacherprinzip wird damit umgelabelt. Das Regelungschaos, das in diesen Tagen auf amtlichen Wege ein weiteres Update erfährt, wird schließlich nur für diese schützenswerte Gruppe fortgeführt, denn eine deutliche Mehrheit, die bereits geimpft oder genesen ist, braucht diese Maßnahmen nur zum Teil zu beachten. Wofür dann also der ganze Aufwand noch?
Wegen der Kinder? Die haben allerdings kein sonderlich relevantes Risiko, daran ändert auch Long Covid nichts, das bislang, wenn überhaupt, nur eine Ansammlung von Symptomen ist, die auch als Folgeerscheinungen anderer Atemwegsinfektionen oder sogar der Maßnahmen auftreten können und in der Regel selten länger als 12 Wochen andauern. Aber das ist eine andere Diskussion. Andreas Gassen zwingt mit seiner forschen Ansage das amtliche Regierungsnarrativ heraus. Denn wer so sicher von einer Pandemie der Ungeimpften spricht, kann nun nicht weiter herumlavieren, wie die Gesundheitsministerin von Niedersachsen zum Beispiel. Ihre Reaktion: „Wir können heute noch nicht verlässlich vorhersagen, was das dann für die Belastung unseres Gesundheitssystems, insbesondere für unsere Krankenhäuser und deren Beschäftigte, bedeutet.“ Wie kann das sein, wenn doch nun klar ist, dass es jetzt nur noch eine Pandemie der Ungeimpften gibt, also ein begrenzter Haufen Unbelehrbarer, mit Ausnahme der Kinder, die überhaupt noch schwer erkranken können, aber eben nicht gleichzeitig?
Pandemie der Untoten
Die können sich doch selber schützen, meint Gassen zurecht. Das müsse nicht der Staat mit allgemeinen Regeln übernehmen, die dann auf seitenlangen Verordnungen durch Ausnahmen für Geimpfte und Genesene ergänzt werden müssen. Es sei denn, der Regierung ist die Belastung der Ungeimpften egal, nicht aber die des Gesundheitssystems und der armen Beschäftigten, wie die Ministerin aus Niedersachsen aber auch ihr ihre Kollegen beteuern. Die sind nämlich auch verantwortlich dafür, dass die Leistungsfähigkeit von Kliniken so ist wie sie ist. Eine entsprechend scharfe Ablehnung des Vorschlags „Freedom Day“ kommt auch vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). Die Pflegefachpersonen seien seit über 18 Monaten am Limit, der Personalmangel nach wie vor massiv und die Kolleginnen und Kollegen bräuchten endlich Entlastung. Alles richtig, nur was hat das mit Corona zu tun? Der gleiche Verband hat gerade 10 Forderungen an die nächste Bundesregierung formuliert. Darin steht:
In den letzten zehn Jahren ist (…) viel zu wenig passiert. Wir haben in der Pandemie alle noch einmal deutlich gesehen, wie sich der Mangel an Pflegefachpersonen auswirkt. Und dieser Mangel wird in den nächsten Jahren noch größer, während immer mehr Menschen professionelle Pflege brauchen werden. Es bleibt hier (…) keine Zeit für ein ‚Weiter so‘.
Corona hat also nur das Problem sichtbar gemacht, das schon seit mindestens zehn Jahren existiert, dank einer Politik, die sich offenbar nur deshalb noch an die chaotische Verordnungspraxis klammert, weil sich auf diese Weise der angerichtete Schaden dann irgendwie bequem den Ungeimpften in die Schuhe schieben lässt. Nur was ist eigentlich, wenn in der anstehenden Saison weniger ungeimpfte Covid-19 Patienten als geimpfte Grippe Patienten beatmet werden müssen? Gibt es nur noch Covid, das eine Klinik an die Grenze der Belastbarkeit bringen kann? Gassen hat zurecht darauf hingewiesen, dass die irrlichternde Politik neue Parameter zur Pandemiesteuerung beschlossen hat, zum Beispiel die Covid-Neuaufnahmen in sieben Tagen pro 100.000 Einwohner, außerdem die Belegung der Intensivbetten und weiterhin die Meldeinzidenz. Wozu der Katalog im Infektionsschutzgesetz, wenn man gar nicht die Absicht hat, diese Instrumente zur Steuerung der Pandemie auch anzuwenden, sondern lieber bei den allgemeinen Vorschriften wie bisher bleibt, auch wenn die Ampeln auf grün stehen?
Man wisse halt nichts, das aber ziemlich genau, wie die niedersächsische Landesregierung und der Kanzleramtschef in Berlin eindrucksvoll bestätigen. Insofern ist es vielleicht nur noch eine Pandemie der untoten Regierungsvertreter, die zwar weiterhin Applaus für die populäre Abkanzelung der Ungeimpften erhalten, dieser aber spürbar abnehmen dürfte, je klarer wird, dass den hoheitlichen Job der Diskriminierung gar nicht die überforderten Behörden, sondern die Applaudierenden selbst im Alltag übernehmen sollen, bei Androhung von Bußgeldern und Schließungen, wenn es zu gemeldeten Verstößen kommt. Der Spruch, dass die Ungeimpften mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung werden leben müssen, gilt dann eben auch für alle anderen mit, die das möglicherweise noch rechtzeitig merken werden, so wie die ehemaligen Punker, die ihre Konzerttour gerade mit folgendem Statement abgesagt haben.
»Und wenn schon die zuständigen Behörden und Politiker uneinig sind, was für alle sicher und gesund ist, woher sollen wir es dann wissen? Wollen wir wirklich das Risiko eingehen, auf Kosten Eurer Gesundheit herauszufinden, dass wir uns (oder die zuständigen Behörden sich) geirrt haben?«
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SEP
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.