Ob man die Corona-Regeln beachtet oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Eine gewisse Ordnung, die es dafür bräuchte, um den niedergeschriebenen Paragraphen-Irrsinn zu begreifen und umzusetzen, gibt es nicht mehr. Sie existiert allenfalls noch als verklärte Vorstellung längst vergangener Tage. In der Wirklichkeit haben wir es mit einer organisierten Verantwortungslosigkeit zu tun, die hier schon oft thematisiert worden ist. Die Regierung erlässt wohlklingende und scharfe Vorschriften, fühlt sich für deren Umsetzung aber anschließend nicht mehr zuständig.
Neulich wurde die Landesregierung Niedersachsen gefragt, wer denn die 3G-Regeln überprüft. Antwort der Regierungssprecherin:
„Wir müssen darauf setzen, dass die Menschen auch in Betrieben verantwortungsvoll mit der Lage umgehen.“ […] Grundsätzlich werde es bei privaten Veranstaltungen keine Kontrollen geben, nur in sensiblen Bereichen wie Clubs und Diskotheken gebe es stichprobenartige Überprüfungen.
Quelle: HAZ
Da klafft eine gigantische Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die starken Worte auf Pressekonferenzen bis hin zu versteckten Drohungen an diejenigen, die nicht spuren, entpuppen sich als hohles Geplapper. Regeln zu erlassen, deren Einhaltung man nicht überprüfen kann oder will, sind überflüssig. Das bürokratische Monster ist anscheinend so mächtig geworden, dass es von der nur noch legendären deutschen Gründlichkeit kaum oder gar nicht mehr gebändigt werden kann. Mit der Illusion eines Landes von gestern Politik in der Gegenwart zu machen, ist sowieso etwas seltsam. So seltsam, dass auch anderen auffällt, dass etwas nicht stimmt. Der ehemalige oberste Datenschützer des Landes beklagt.
Und der bekannte Datenjournalist der taz, Malte Kreutzfeldt, der jeden Morgen die neuesten Zahlen des RKI akribisch aufbereitet, stellt erschüttert fest, dass der Umgang mit der 3G-Regel außer Kontrolle sei. Tja, da wird tagelang über Ausgrenzung und Diskriminierung debattiert, ob das rechtens oder ethisch vertretbar ist, dabei existiert das Problem in der Praxis gar nicht. Die Vorstellung von deutscher Ordnung und Gründlichkeit deckt sich schon lange nicht mehr mit dem Alltag. Statt Knoppers um halb zehn, gibt es Daten-Salat rund um die Uhr. Da hätte man ja auch früher drauf kommen können. Trotzdem ist es natürlich interessant, wie sich Bund und Länder auf Nachfrage dazu verhalten.
Doch für die Umsetzung dieser Vorgaben fühlt sich das Ministerium nicht zuständig. Auf Anfrage teilt eine Sprecherin mit, dass für die Kontrollen der 3G-Regel die Länder verantwortlich seien. Eine Abfrage der taz bei den Landesgesundheitsministerien, die mit Ausnahme von Bayern und Berlin von allen beantwortet wurde, zeigt jedoch: Auch dort gibt es keinen Überblick, wie die Kontrollen erfolgen – denn für die praktische Umsetzung sind wiederum die Kommunen zuständig. Und Vorgaben machen die Länder diesen kaum.
Quelle: taz
Das ist deshalb besonders bemerkenswert, weil es auf Verlangen der Länder wie des Bundes unbedingt erforderlich war, die epidemische Lage von nationaler Tragweite noch einmal zu verlängern. Warum eigentlich? Damit man das Umsetzungschaos exekutiven Handelns weiter kopfschüttelnd besichtigen kann? Neben der Tatsache, dass es kaum noch Stellen gibt, die sich als ausführende Instanz des Regelungs-Irrsinns berufen fühlen, ist aber auch die Vorstellung falsch, dass sich das Leben mittels Einhaltung absurder bürokratischer Vorgaben problemlos bestreiten ließe. So ist es dann auch unverständlich, wie verliebt manche Zeitgenossen nach Frankreich und Italien blicken, weil dort viel rigoroser gescannt, kontrolliert und bestraft werde. Sollte das wirklich der Maßstab sein?
Wer ständig den moralischen Zeigefinger erhebt, gar von Bürgerpflichten schwadroniert, sollte die Menschen dann auch nicht wie Dummköpfe behandeln. Neulich beklagten sich Gesundheitsbehörden darüber, dass positiv Getestete kaum noch Angaben zu ihren Kontakten machen.
„Aktuell behauptet im Schnitt jeder Zweite, der positiv getestet wurde, überhaupt niemanden getroffen zu haben“, sagte Hergen-Herbert Scheve, der bei der Region Hannover für die öffentliche Gesundheit zuständig ist. „Im Schnitt erfassen wir 2,2 Kontaktpersonen pro Indexfall“, sagt Scheve. Dies bilde sicherlich nicht die Realität ab.
Quelle: FAZ
Parallel dazu verbreitete die Verwaltung der Region Hannover in sozialen Netzwerken diesen Beitrag.
Und da fragt man sich noch ernsthaft, warum es bei Betroffenen zu Erinnerungslücken kommt. Das Virus hat seinen Schrecken verloren. Daran ändern auch neue Warnstufen und Beobachtungskriterien nichts, wie die Unterscheidung von Infektionszahlen nach Geimpften und Ungeimpften, wobei die einen fast gar nicht mehr und die anderen sehr viel häufiger getestet werden. Irgendwelche Zahlen ohne diese notwendige Einordnung zu kommunizieren, ist vorsätzlich unseriös. Es scheint daher nur noch eine Angst zu geben, und zwar davor, dass das inakzeptable Regierungsversagen einmal groß zum Thema gemacht werden könnte.
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SEP
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.