Die Thesenpapier-Autorengruppe hat ihr 8. Thesenpapier erarbeitet (Datum 29.8.2021), das auf insgesamt 151 Seiten zu vier Aspekten Stellung nimmt. Es enthält wieder interessante und nützliche Informationen, die auch dem gängigen Narrativ widersprechen. Hier einige Auszüge aus der Zusammenfassung des Papiers.
Die graduelle Differenzierung vulnerabel vs. nicht-vulnerabel wird durch die Differenzierung geimpft vs. nicht-geimpft (vs. nicht impf-fähig) ergänzt und die Gesamtkomplexität steigt dadurch erheblich an. Die Regelungsgrößen, die sich in der politischen Diskussion befinden, können nicht Schritt halten, im Gegenteil: es entsteht der Eindruck einer weitgehenden Desorientierung und fehlenden Zielgenauigkeit von einzelnen Maßnahmen und Grenzwerten. Konnte man die erste Phase noch durch die Allegorie „Tunnel ohne Ausgang“ beschreiben (sozusagen „Lockdown ohne Ende“), ähnelt die jetzige Situation eher einem Tunnel-Labyrinth ohne jegliche Anmutung einer Richtung bzw. Perspektive. Es bleibt völlig unklar, aufgrund welcher Daten oder welcher Beschlussinstanzen der Umgang mit Geimpften und Nicht-Geimpften (Regelungen wie „3G“ oder „2G“) vorgenommen werden, welche inkrementelle Bedeutung „alten“ Melderaten-basierten Grenzwerten im Vergleich zu rezent diskutierten „Hospitalisierungsinzidenzen“ oder Impfquoten zukommt – alles noch unter dem zusätzlichen Aspekt, dass wir in Deutschland nicht einmal über reliable Daten zu den realen Impfquoten verfügen. Die weitere Entwicklung verspricht leider keine Besserung, denn die Konflikte um die „Impfdurchbrüche“ stehen noch an, Konflikte, die besonders schwer zu lösen sind, weil es für die Impfbereitschaft natürlich kein förderliches Argument ist, wenn man über die Diskussion über eine „Drittimpfung“ den Nutzen der Impfung insgesamt relativiert (ganz abgesehen davon, wie die wissenschaftliche Absicherung einer dritten Impfung aussieht). Der Wahlkampf und die anstehende, evtl. nicht einfache Regierungsbildung machen es sicherlich nicht einfacher.
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Diskutiert man die Melderate nun auf der Grundlage des Indikatoren-Konzeptes, muss auch hier festgehalten werden, dass der Indikator „7-Tage-Inzidenz“ als alleiniges Mittel zur Beschreibung des Krankheitsverlaufes und der Nutzung der Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht zu verwerten ist. Der Indikator ist weder adäquat spezifiziert (fragliche Begriffsbildung, inadäquater Beobachtungszeitraum, fehlender Populationsbezug) noch zuverlässig (reliabel) zu messen (v.a. abhängig vom Stichprobenumfang, Teststrategie), außerdem ist er nicht valide und wird sehr stark durch bekannte sowie unbekannte Störvariablen beeinflusst. Besonders fallen kleinräumige Unterschiede hinsichtlich Demographie, Komorbidität und Umgebungsfaktoren (v.a. soziale Benachteiligung, Arbeitsumwelt) ins Gewicht, weswegen eine Vergleichbarkeit gemessener Indikatorausprägungen (Melderaten-Werte) zwischen kleinräumigen Regionen nicht gegeben ist. Auch andere, neuerdings diskutierte Einzelwerte (z.B. „Hospitalisierungsinzidenz“) sind nicht sinnvoll einzusetzen. Soweit man eine Epidemie als komplexes System versteht (s. Kap. 2), ist ein anderer Befund auch nicht zu erwarten, stattdessen muss man eine Auswahl von Indikatoren treffen (Indikatoren-Sets).
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Bei Long-Covid handelt es sich um ein bislang nicht fest definiertes Krankheitsbild, das ein breites Spektrum unspezifischer Symptome umfasst. Um eine genauere Kenntnis über die Anzahl möglicher Fälle und die klinische Abgrenzung zu entwickeln, bedarf es weiterer Studien. Insbesondere ist differentialdiagnostisch zu klären, inwieweit es sich bei dem Symptomenkomplex um Long Covid oder um „Long Pandemic“ handelt, also welche Rolle den sekundären Folgen der Kontaktbeschränkungen speziell für Kinder zuzuschreiben ist. Die mit den Corona-Maßnahmen verbundenen gesundheitlichen Konsequenzen für die Kinder und Jugendlichen waren und sind dramatisch. Der Verlust eines strukturierten Alltags durch die Schließung der Kindergärten und Schulen, Bildungsverluste, fehlende Sozialkontakte zu Gleichaltrigen, Fehlernährung, Bewegungsmangel und erhöhter Medienkonsum sind für die Heranwachsenden mit einem erheblichen gesundheitlichen Risiko verbunden. Bei den Jugendlichen hat nach dem ersten Lockdown die Prävalenz depressiver Symptome deutlich zugenommen, bei den Jungen hat sie sich verdoppelt, bei den Mädchen gar verdreifacht. Jugendliche mit Migrationshintergrund waren stärker von depressiven Symptomen betroffen als solche ohne. Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche, sexueller Missbrauch und Kinderpornographie haben drastisch zugenommen.
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Pflichttestungen in Kindergärten und Schulen sind im Hinblick auf ihre Risiko-, Aufwand- und Nutzenbewertung weder geeignet noch verhältnismäßig, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche nur mild erkranken. Forderungen nach noch mehr, gar nach täglichen Schnelltests in Schulen, entbehren jeder wissenschaftlichen Basis.
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Die überarbeitete Impfempfehlung der STIKO für die 12-17jährigen lässt viele Ärzte und Familien ratlos zurück, nicht nur, weil die Frage nach dem gesundheitlichen Nutzen für eine Impfung dieser Altersgruppe nach wie vor nicht ersichtlich ist, sondern auch, weil die Frage möglicher Langzeitfolgen eines innerhalb so kurzer Zeit nach Entwicklung und Markteinführung eingeführten Impfstoffs noch nicht zu beantworten war. Zurück bleibt das ungute Gefühl einer unter größtem politischen Druck ergangenen Empfehlung, derer es letztlich nicht bedurft hätte, weil die STIKO schon zuvor allen 12-17jährigen eine Impfmöglichkeit eingeräumt hatte. Ob die Impfung den Kindern und Jugendlichen den psychosozialen Druck, unter dem sie mit Gewissheit stehen, nehmen kann, darf bezweifelt werden – Ursache des Drucks ist nämlich kein Virus, sondern eine Politik, die den Lebensalltag der Heranwachsenden unverhältnismäßig eingeschränkt hat. Möglicherweise erhöht die Empfehlung diesen Druck sogar noch – Jugendliche berichten von steigendem Druck seitens ihrer Mitschüler und einiger Lehrer, sich impfen zu lassen. Impfbusse, die vor Schulen vorfahren, tun das Ihrige dazu.
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Die Öffnung der Schulen an die Forderung nach einer bestimmten Impfquote in der Bevölkerung zu knüpfen, ist unhaltbar. Das gilt im Übrigen auch für die Universitäten. Jetzt, wo allen Bürgern ein Impfangebot offensteht, sind weitere Freiheitsbeschränkungen für Schüler und Studierende durch nichts mehr zu rechtfertigen. Kinder und Jugendliche haben während der Pandemie einen erheblichen Beitrag für die Gesellschaft geleistet und dabei selbst gravierende Nachteile in Kauf nehmen müssen. Bei allen Maßnahmen, die künftig gelten sollen, ist ihr Wohl vorrangig zu berücksichtigen – unabhängig vom Impfstatus.
Bildnachweis: Thesenpapier Autorengruppe, 8. Thesenpapier, 29.08.2021, via Info-Plattform Corona
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.