Das katastrophale Pandemiemanagement ist geprägt von einer Verantwortung, die ständig hin und her delegiert wird, vermutlich aus Angst, für verbindliche Entscheidungen politisch haftbar gemacht zu werden. Beispiele dafür gibt es genug. Eines ist das Bestreben der Politik, die Kinder unbedingt impfen zu lassen. Das geschieht nämlich nur, weil es auf der anderen Seite nicht gelingt, die Schulen, die man erst zu Gefahrenorten hochstilisiert hat, nun wie versprochen sicherer zu machen. Außerdem droht bei einer Zunahme der Fallzahlen auch viel Quarantäne, also Homschooling durch die Hintertür.
Im Augenblick ist es so, dass Eltern und Lehrer von Politik und Verwaltung erwarten, die zur Verfügung stehenden Mittel, zum Beispiel Gelder für Raumluftfilter, schnell zu nutzen. Doch die Umsetzung ist ein Problem. Stationäre Anlagen können zeitnah kaum verbaut werden, da solche Eingriffe in die Gebäudesubstanz erheblich sind und in der Regel komplizierte Ausschreibungsverfahren erforderlich machen. Der Bund weiß das, tat aber so, als könnten die Kommunen das mal eben nebenbei in den Sommerferien erledigen. Die Kritik daran war groß.
Mobile Anlagen galten wiederum in ihrem Nutzen als eingeschränkt und wurden daher lange Zeit nicht empfohlen. Das hat sich inzwischen geändert. Das Umweltbundesamt passte seine Einschätzung kürzlich an. Gleichzeitig betont die Behörde, nie von einem Einsatz bestimmter Geräte abgeraten zu haben. Das kam vielerorts aber genau so an und sorgt nun ebenfalls für Irritationen. Es ist ein Blame Game zwischen Bund, Ländern und Kommunen im Gange, das sehr eindrücklich die organisierte Verantwortungslosigkeit vor Augen führt.
Die Sache mit den Filteranlagen wird damit ziemlich sicher in die Hose gehen. Aus Sicht der Hysteriker, die Klassenräume bar jeder Evidenz schon immer als Drehscheibe für das Virus ansahen, wird es eine sichere Schule folglich auch nach den Ferien nicht geben können. Der Lehrerverband warnt bereits vor „Durchseuchung“. Es droht daher Ungemach für die politischen Verantwortungsträger, die sich der panikartigen Stimmung mit Schulschließungen nur allzu gerne hingaben und diese Haltung als Markenkern des Teams Vorsicht beschrieben, obwohl sich auch jetzt wieder zeigt, dass das Infektionsgeschehen in der jüngeren Altersgruppe dann zunimmt, wenn gerade keine Schule ist.
Politische Bequemlichkeit
Zudem sind Schulschließungen außerhalb der Ferien für Kinder und Jugendliche sehr viel schädlicher als die Infektion mit dem Virus selbst. Ein Dilemma. Bequemer als der Einbau von Luftfiltern erscheint das Impfen, obwohl es dafür keine plausiblen Gründe gibt, wie die STIKO in ihrer Empfehlung festhielt. Der Nutzen ist nicht erwiesen und die Risiken einer Impfung noch nicht ausreichend erforscht. Das wurmt die Politik, wie der SPD-Chef Norbert Walter-Borjans kürzlich bei Lanz unter Beweis stellte. Auch dessen Kollege Stephan Weil, Ministerpräsident in Niedersachsen, gehört zu denjenigen, die Druck auf die STIKO ausüben, damit die ihre Haltung ändert.
Dass die STIKO bislang auf eine Empfehlung verzichtet, wirft eben auch unangenehme Fragen auf. Welche Kompetenz haben denn die Juristen einer Landesregierung, um sich über eine Auffassung des Expertenrates hinwegzusetzen? Die Landesregierung erweckt den Eindruck, es medizinisch und infektiologisch besser zu wissen, bleibt aber eine Erklärung schuldig, warum die Aussagen eines 18-köpfigen Fachgremiums falsch sein und korrigiert werden sollten. Stephan Weil verweist auf Österreich. Er hatte kürzlich Besuch von dort und mal beiläufig nachgefragt, wie die das so handhaben.
Die würden natürlich auch geimpft, war die Antwort. […] Sind die Verantwortlichen in Österreich und vielen anderen Ländern leichtsinnig, wenn sie dem Schutz vor der Pandemie den Vorrang einräumen? Wohl kaum. Das ist ein ernstes Thema, denn wenn große Teile der erwachsenen Bevölkerung geimpft sind, wird die Delta-Variante vor allem bei Kindern und Jugendlichen fündig werden. Und wenn geimpfte Menschen ihr Leben hoffentlich dann ohne große Einschränkungen führen können, müssen Jugendliche sich auf neue Einschränkungen gefasst machen. Ich finde, das ist ein schwer erträglicher Gedanke.
Die Begründung ist bemerkenswert, zumal der Ministerpräsident den Eindruck erweckt, er sei als Chef der Exekutive gar nicht für die Einschränkungen verantwortlich, sondern setze nur Zwangsläufiges um. Seine Regierung ordnet Maßnahmen aber konkret an, niemand sonst. Wenn es Stephan Weil dabei schlecht geht, sollte er die Verantwortung vielleicht abgeben. Stattdessen ist seine Drohung, dass sich Jugendliche auf Einschränkungen gefasst machen müssten, verräterisch. Nur auf welcher Grundlage sind solche angekündigten Rohrstockschläge noch zulässig? Die Melde-Inzidenz hat ausgedient, die Krankheitslast rückt wieder ins Zentrum der Debatte, zumindest lässt sich das nicht mehr umgehen.
Man muss sich nur einmal vorstellen, wir würden den technisch-diagnostischen Aufwand, den wir derzeit für Covid betreiben, auf andere Krankheitserreger ausweiten. Wir würden Millionen Fallzahlen registrieren. Aber wollen wir das? Als Arzt habe ich gelernt, dass eine Diagnose nicht allein auf Laborbefunden beruhen darf und erst recht nicht die Therapie. In der Epidemiologie, in der quasi die Bevölkerung den Patienten darstellt, gilt das Gleiche. Labordaten allein sollten nicht unser Handeln bestimmen. Schon gar nicht, wenn politische Entscheidungen und ökonomische Anreize immer wieder zu veränderten Teststrategien führen – und damit die Wahrscheinlichkeit für positive Laborbefunde schwankt.
Quelle: Infektionsepidemiologe Gérard Krause auf Welt Online
Gérard Krause hat dazu auch schon in den öffentlichen Anhörungen des Niedersächischen Landtages gesprochen. Bei der Regierung scheint davon nicht so viel hängengeblieben zu sein, sonst würde Stephan Weil anders reden. Aber um Wissenschaft und einen nüchternen Blick auf Risiken geht es eben schon lange nicht mehr. Dann würden Herr Weil und andere nämlich erkennen, dass Kinder nur selten schwer an Covid-19 erkranken, aber viel stärker unter Kontaktbeschränkungen und Ausfall der Kinderbetreuung sowie des Präsenzunterrichts zu leiden haben. Diese schwerwiegenden Folgen nun der STIKO oder den Ungeimpften in die Schuhe zu schieben, ist schäbig.
Nur noch Schattenboxen
Die Strategie ist dann auch durchschaubar. Wären die Kinder geimpft, müsste die Politik nicht erklären, warum das mit der angekündigten Ausstattung der Schulen wieder nicht klappt. Man müsste bei einem positiven Test auch keine ganzen Klassen mehr in Quarantäne schicken, da ja die Impfung per amtlicher Festlegung auch vor einer Isolation in den eigenen vier Wänden schützt, ob man nun infiziert und weiterhin ansteckend ist oder nicht, ist dann prinzipiell wurscht. Die Impfung heilt quasi das Glaubwürdigkeitsproblem einer Regierung, die inzwischen zum albernen Schattenboxen übergegangen ist.
So kündigt Kanzleramtsminister Helge Braun in der Bild am Sonntag mögliche Einschränkungen für Ungeimpfte ab Herbst an, eine durchaus populäre Forderung, bei der ganz beiläufig verschleiert wird, dass es dann auch für die Geimpften natürlich weitere Einschränkungen geben wird oder die Diskriminierung von denen verweigert werden könnte, die sie in der Praxis vornehmen sollen. Der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, ist wiederum gegen eine Benachteiligung Ungeimpfter, besetzt also eine Gegenposition. Das sieht nach einem klassisch abgesprochenen Wahlkampfmanöver aus, bei dem ein inszenierter Konflikt nur dazu dient, die Chancen der Union bei der Bundestagswahl insgesamt zu erhöhen. Rolf Mützenich hat das offenbar erkannt, seine depperten Parteivorsitzenden dagegen nicht.
Die Debatte um Nachteile für Ungeimpfte dient bei näherer Betrachtung ohnehin nur als Pausenfüller für die Katastrophe beim Katastrophenschutz. Die Fragen bleiben aber. Was machen wir mit den vielen kranken Kindern, die gar nicht an, sondern verstärkt unter Corona und den Maßnahmen leiden? Wird man dauerhaft an der Nadel hängen müssen, um ein bestimmtes Portfolio an Freiheitsrechten behalten zu dürfen? Warum sinken die Fallzahlen in Großbritannien und den Niederlanden trotz „unverantwortlicher Öffnungen“ (sic!) schon wieder, obwohl wir gerade damit angefangen haben, die vierte Welle als Apokalypse zu beschreiben? Und warum hat Helge Braun eigentlich mehr Aufmerksamkeit als Helge Schneider, dessen Publikum kontaktlos in Strandkörben hockt?
Bildnachweis: Astrid Zellmann auf Pixabay
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.