Ungeimpfte stehen nicht zur Wahl

Geschrieben von: am 15. Jul 2021 um 12:27

Im Augenblick übertrifft eine katastrophale Flutwelle im Westen des Landes alle anderen Wellen, die bislang immer noch als dramatisch beschrieben werden. Die Debatte darum, mit welchen Methoden man Menschen begegnen sollte, die sich nicht impfen lassen wollen, hat rasant an Dynamik verloren, nachdem es am Montag noch so ausgesehen hatte, als würde eine neue Eskalationsstufe im missglückten Pandemiemanagement gezündet. Die Großmäuler aus Politik und Medizin rudern nun zurück. Von Missverständnissen ist die Rede, aber grundsätzlich halte man daran fest, dass der Alltag für die Ungeimpften unbequemer sein müsse. Dabei wird der Alltag gerade für viele einkommensärmere Familien auch mit Impfung immer belastender.

Wie immer, wenn etwas scheitert, braucht es einen Schuldigen. Die Ungeimpften bieten sich an. Sie sind als Minderheit nun diejenigen, die eine Rückkehr der Mehrheit zur Normalität erschweren. Das ist natürlich Unsinn und wird an mehreren Beispielen sichtbar, vor allem daran, dass die Politik ihre eigenen Ankündigungen erst missachtet, um dann neue Zielwerte als maßgeblich zu erfinden. Das war erst bei den willkürlich ausgewürfelten Inzidenzen der Fall und ist nun bei der Impfquote so, die mit voller Absicht so hoch angesetzt worden ist (85 Prozent), dass sie realistischerweise gar nicht erreicht werden kann, was wiederum dabei hilft, das neue Feindbild Ungeimpfter bis zum Urnengang im September aufrechterhalten zu können.

Dieses Vorgehen ist auch populär, da eine Mehrheit, die sich bereits hat impfen lassen, nun erwartet, dass Beschränkungen zurückgenommen werden und ihren Ärger, wenn das nicht geschieht, irgendwohin kanalisieren müssen. Allerdings tritt dabei in den Hintergrund, dass die Aussicht auf Normalität wiederum darin besteht, ständig seinen Impf- oder Immunitätsstatus auf Verlangen vorzeigen zu müssen. Gleichzeitig gelten die Auflagen fort, die das Infektionsschutzgesetz und die Verordnungen der Länder allen auferlegen, auch wenn es für Geimpfte Ausnahmen gibt. Derzeit denkt die Politik nicht daran, diese Sonderbestimmungen aufzuheben. Sie sind vorerst bis Ende September beschlossen.

Mangelnde Glaubwürdigkeit

Darüber hinaus braucht es für eine Normalisierung des Alltags auch entsprechende Angebote, die nicht da sind. Feste und Veranstaltungen werden weiterhin eher abgesagt oder mit sinnlosen Regeln massiv eingeschränkt oder unattraktiv gemacht. Reisen sind zwar möglich, unterliegen aber auch wieder Vorschriften, die sich permanent ändern können, wenn es die Regierung für erforderlich hält. Der Satz „Ohne Impfung keine Freiheit“ ist schlichtweg gelogen, da diese Freiheit weiterhin durch Einschränkungen geprägt sein wird und auch wiederum davon abhängt, welchen Impfstoff man gespritzt bekommen hat. So wird beispielsweise AstraZeneca aus Indien anders behandelt als AstraZeneca aus Europa. Es kann auch sein, dass eine Variante des Virus die eingeimpfte Freiheit einfach wieder aufhebt oder der Schutz irgendwann abgelaufen ist und aufgefrischt werden muss. Andere Impfstoffe, wie der aus Russland, werden aus ideologischen oder geopolitischen Gründen gleich ganz blockiert.

Der bayerische Ministerpräsident, der am Montag noch vollmundig auftrat und dem ebenfalls wahlkämpfenden französischen Präsidenten nacheifern wollte, will inzwischen nur noch das Testen kostenpflichtig machen. So als ob diese anlasslose Testerei, die vor allem er befördert hat, nicht bereits eine gigantische Verschwendung von Steuergeldern ist. Söder erhofft sich dadurch offenbar mehr Impfwillige. Das Gegenteil wird aber eintreten und das Infektionsgeschehen der bisherigen Regierungslogik folgend, wieder diffuser, als es ohnehin schon ist. Denn da, wo Tests sinnvoll sein können, werden sie aus Kostengründen dann einfach nicht gemacht und Fälle bleiben unentdeckt. Vermutlich haben sich CDU und SPD im Bundestag deshalb gegen Söders Vorschlag ausgesprochen. Ihm zu folgen wäre nur ein weiterer Beleg für die mangelnde Glaubwürdigkeit der Politik.

Die hat schon damit zu kämpfen, dass ihr die Begründungen für das Pandamiemanagement ausgehen. Um es deutlich zu sagen: Von dem Virus geht keine Gefahr mehr aus, da es mittlerweile gelungen ist, die besonders gefährdeten Gruppen mit Impfungen zu schützen. Eine Überlastung des Gesundheitssystems durch Covid-Fälle ist dann auch nicht mehr zu erwarten. Die Änderungen bei der Meldeinzidenz, die in lächerlicher Weise von eifrigen Datenjournalisten jeden Tag auf die Nachkommastelle genau gemeldet werden, sind damit noch belangloser als bislang schon. Der Medizinstatistiker Gerd Antes sagt:

Wenn jetzt jeden Morgen dramatisiert wird, dass die Inzidenz von 4,9 auf 5,8 oder 6,2 gestiegen ist und es dann heißt „die Zahlen steigen wieder“. Das muss man sich einmal umrechnen, wie wenig das ist. Wir haben gegenwärtig kaum Neuinfektionen und dann wird an diesen Zahlen hinter dem Komma rumhantiert. Diese Überinterpretationen halte ich für völligen Unfug. […] Die Inzidenz war noch nie ein alleiniger guter Steuerungsparameter – er war eben für die Politik sehr bequem.

Quelle: Apotheken Umschau

Die vierte Welle steht in den Startlöchern. Das muss sie auch, weil es für die Politik bequem ist. Der Ausgang der Bundestagswahl hängt vermutlich davon ab, wem die Menschen die Schuld für das Versagen bei der Pandemiebekämpfung geben. Die verantwortlichen Parteien zeigen nun auf die Ungeimpften. Die stehen aber nicht zur Wahl und sind auch nicht verantwortlich dafür, dass es Einschränkungen gibt. Sie sind nicht verantwortlich dafür, dass es nach den Sommerferien erneut keine Luftreinigungsanlagen in den Schulen geben wird. Und sie sind auch nicht verantwortlich dafür, dass Bundes- und Landesregierung Milliardensummen für Maßnahmen verschleudern, deren tatsächliche Auswirkungen auf das Pandemiegeschehen nicht einmal untersucht werden. Sie sind folglich auch nicht für die enormen Schäden verantwortlich, die durch diese Politik seit über einem Jahr angerichtet werden.

Über Solidarität

Um davon abzulenken sollen Menschen nun zu einer Impfung genötigt werden, die sie aus guten Gründen nicht für erforderlich halten und daher auch ablehnen dürfen, ohne dass ihnen dadurch Nachteile entstehen. Das ist ihr gutes Recht. Dadurch entsteht kein Schaden an der Gemeinschaft, außer der, den die Politik herbeifantasiert. So schreckt der bayerische Trump in seiner Umfragenot nicht einmal mehr davor zurück, die STIKO öffentlich herabzusetzen. „Wir schätzen die Stiko, aber das ist eine ehrenamtliche Organisation. Die EMA – die Europäische Zulassungsbehörde – das sind die Profis.“ Das wirkt fast so, als wollte Söder fragwürdige Entscheidungen treffen, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu wollen. Das wäre schäbig.

Wenn es um die Impfungen geht, wird viel von Solidarität gesprochen. Wer sich nicht impfen lasse, handele demnach unsolidarisch und gefährde andere. Das sagen ausgerechnet die, die mit einer Reihe ungedeckter Schecks in den Bundestagswahlkampf ziehen und noch schlimmer, die Abgaben für Besserverdienende und Reiche weiter senken wollen. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat für die Süddeutsche Zeitung berechnet, wie sich die Steuer- und Sozialpläne der Parteien zur Wahl finanziell auf einzelne Bürger auswirken. Das Ergebnis ist eindeutig. Union und FDP streben eine weitere drastische Umverteilung von unten nach oben an und damit auch eine ungerechte Lastenverteilung der gigantischen Krisenkosten.

Die CSU hat während ihrer Klausurtagung im Kloster Seeon auch noch einmal bestätigt, an Steuersenkungen festhalten zu wollen, auch wenn sich die große Schwester noch ziert. Dieser gespielte Konflikt innerhalb der Union, der sich auch in harter und weicher Haltung beim Pandemiemanagement zeigt, soll dafür sorgen, möglichst viele Bevölkerungsgruppen anzusprechen und die Konkurrenz auf Abstand zu halten. Dem SPD-Finanzminister wird vorsorglich der Schwarze Peter zugeschoben, wenn nach einem Kassensturz statt neuer Vorhaben wieder harte Einschnitte verkündet werden müssen, unter denen Kinder und Jugendliche dann ganz sicher am meisten zu leiden haben. So hat der Paritätische gerade eine Studie veröffentlicht, die belegt, dass die Kinderarmut weiterhin zugenommen hat.

Demnach leben rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche (20,5 Prozent) inzwischen in Armut. Besonders hart und häufig treffe es unverändert Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Insgesamt seien die Leistungen der Grundsicherung deutlich zu niedrig bemessen und ergänzende familienpolitische Maßnahmen nicht ausreichend, um Familien und Kinder effektiv vor Armut zu schützen, so die Kritik. Und: Die Folgen der Corona-Pandemie belasteten gerade einkommensarme Familien zusätzlich, wie die Autoren skizzieren. Dafür werden Kinder jetzt durch politische Armleuchter zu einer Impfung genötigt, die sie nicht brauchen und die auch nicht zu mehr Freiheit führen wird. Erstens, weil die Pandemiemaßnahmen einfach weitergehen und zweitens, weil die materiellen Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe in einem so reichen Land immer weniger gegeben sind.

Die eigentliche Nachricht ist daher: Nicht die Ungeimpften, sondern die Pläne der Politik für die nächste Legislatur stellen eine Gefahr für das Allgemeinwohl dar.


Bildnachweis: FelixMittermeier auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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