Hilfe, das Impftempo lässt nach und die vierte Welle rollt an. Wie soll man diejenigen nun überzeugen, die noch unentschlossen sind oder gar planen, sich gar nicht impfen zu lassen? Sollte man weiter Druck ausüben und damit drohen, Freiheiten einzuschränken oder sollte man gezielt Anreize setzen, wie Freikarten fürs Theater oder Preise verlosen? Das ist alles Blödsinn. Man muss gar nichts dergleichen tun.
Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich der neoliberal geprägte Staat plötzlich um seine Bürger kümmert und als Erzieher aufspielt. Die Impfquote wird in immer höhere Sphären getrieben und der Bundesgesundheitsminister erklärt im Morgenmagazin, dass Minderjährige selbst entscheiden sollten, ob sie sich impfen lassen. Das müssten neben skeptischen Eltern dann wohl auch Ärzte akzeptieren, die der Empfehlung der STIKO folgen und von einer Impfung abraten.
Wer sich heute nicht impfen lassen möchte, der darf sich morgen nicht wundern, wenn die Party ohne ihn steigt.
Quelle: Jens Spahn via Deutschlandfunk
Für den Gesundheitsminister Spahn, der für eigene Partys gern einen Beitrag von genau 9.999 Euro pro Person erhebt, ist die Wirklichkeit inzwischen ziemlich autoritär geprägt und bietet Raum für Willkür. Denn wer sich heute impfen lässt, kann sich morgen keineswegs sicher sein, nicht doch in 14-tägige Quarantäne zu müssen. Und wer sich heute in Deutschland kreuzimpfen lässt, kann sich morgen ebenfalls nicht sicher sein, dass das woanders auch anerkannt wird. Spahn spricht gern davon aufeinander aufzupassen. Ihn kontrolliert offenbar niemand.
Zu sehr gefalle sich Jens Spahn in der Rolle des Bundeserziehungsberechtigten, meint Bundestagsvize Wolfgang Kubicki. Wer die Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen als eine Art Belohnung für eine Impfung verkauft, argumentiere nicht nur infantil, sondern denke auch sehr autoritär. „Die Maßnahmen sind nicht dazu da, die Impfung schmackhaft zu machen.“ Folglich leide dann auch die Akzeptanz der Impfkampagne unter der Androhung von Sanktionen. Das ist sicherlich richtig, lenkt aber davon ab, dass eine hohe Impfbereitschaft auch gar nicht erforderlich ist.
Teure Symbolpolitik
Es reicht, wenn allen, die es wollen, ein Impfangebot gemacht werden kann. Das war lange Zeit nicht möglich, da die Bundesregierung ein Beschaffungsdesaster zu verantworten hat und dieses durch allerhand teure Symbolpolitik kaschiert. Beispiel Impfzentren. Sie sind unnötig. Eine Impfkampagne läuft, genug Impfstoff vorausgesetzt, über das Haus- und Betriebsärztesystem am besten. Inzwischen gibt es eine Debatte um Terminschwänzer. Die schwänzen aber gar nicht, sondern können keine Absagen veranlassen, weil der eilig zusammengeschusterten Software offenbar die entsprechende Funktion fehlt.
Die ausgeweitete Schnelltesterei verschlingt Unsummen. Der Ertrag in Form von tatsächlich positiven Befunden ist äußerst gering, der Ansatz der Strategie also viel zu ungenau. „Schnelltest-Kits wurden ursprünglich zum Erkennen von akuten Infektionen entwickelt. Der massenhafte Einsatz für asymptomatische Personen stand dabei ursprünglich nicht auf dem Plan der Hersteller.“ An den Corona-Massentests in Schulen zweifelt inzwischen auch der STIKO-Chef und mit der aufgeladenen Debatte um stationäre Raumluftfilter kündigt sich die nächste Blamage bereits an. Umsetzbar ist das nämlich nicht, was die Bundespolitik als lässiges „ToDo für die Sommerferien“, quasi mit einem Fingerschnippen suggeriert.
An der Normalisierung sämtlicher Lebensbereiche führt daher kein Weg mehr vorbei. Mehr Pragmatismus, statt Hysterie wäre ratsam. Wenn Impfquoten nicht erreicht werden, ist das kein Grund in wilden Aktionismus zu verfallen, schon vorsorglich wieder nach mehr Maßnahmen zu rufen oder gar einen Kampf um Impfskeptiker zu beginnen. Durch den bisher erreichten Schutz und die laufende Verfügbarkeit von Impfstoffen ist die Grundlage für Einschränkungen nicht mehr gegeben. Das könnte man einmal positiv herausstellen und mehr Zuversicht und Gelassenheit verbreiten. Stattdessen droht man lieber mit erzieherischen Maßnahmen.
Die Besorgnis über wieder ansteigende Infektionszahlen ist unbegründet, was ja auch die Bundesregierung demonstriert, wenn sie Länder wie Portugal und Großbritannien erst zu Virusvariantengebieten erklärt und dann wieder herabstuft, obwohl die Inzidenzen dort weiter ansteigen. Die Meldeinzidenzen sind inzwischen belanglos. Sie zeigen nur an, dass sich eine Atemwegsinfektion in Wellen ausbreitet. Das lässt sich nicht ändern, trotzdem hat dieses Coronavirus seinen Schrecken verloren, vermutlich auch deshalb, weil über 40 Prozent der Infizierten, laut einer neuen Studie, offenbar gar nichts von ihrer Infektion mitbekommen, also bereits unerkannt genesen sind. Eine Kategorie, die im Corona-Sprachschatz so aber leider nicht vorkommt.
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JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.