Klassische Ablenkungsmanöver zeichnen sich dadurch aus, dass man abgeschlossene Debatten wieder aufwärmt und zum großen Thema aufbläst. Die Diskussion über die Impfung der Kinder ist so ein Fall. Aus den Reihen der Politik wird lautstark gefordert, die Ständige Impfkommission (STIKO) möge ihre Haltung überdenken und das Impfen ab 12 empfehlen. Dabei hat das 18-köpfige Expertengremium nach langer sorgfältiger Prüfung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse eine Entscheidung getroffen, die an Klarheit unumstößlich ist. Verfügen Politiker mit juristischer Ausbildung im Verwaltungsrecht nun über die besseren Erkenntnisse? Nein. Sie betreiben lediglich mediale Beschäftigungstherapie, um vom großen Versagen etwas ablenken zu können.
Die STIKO hat nämlich kurz zuvor ein weiteres Fass aufgemacht. Der gelassen auftretende Vorsitzende Thomas Mertens zweifelt nämlich an der Sinnhaftigkeit der Massentests in Schulen. „Ich frage mich, wie wichtig es tatsächlich ist, jedes symptomlos infizierte Kind durch Testung zu entdecken“, sagte Mertens der „Schwäbischen Zeitung“ (Montagausgabe) in Ravensburg (via RND). Es würde doch reichen auf Symptome zu achten und dann gezielt zu testen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Kinder eher weniger zum Infektionsgeschehen beitragen und auch seltener erkranken. Folglich gehöre auch der Infektionsschutz an den Schulen auf den Prüfstand. Was ist tatsächlich wirksam, was überhaupt notwendig.
Stich ins Wespennest
In welches Wespennest Mertens da gestochen hat, zeigen die übertriebenen Reaktionen. Der STIKO-Chef nehme eine „Durchseuchung“ billigend in Kauf. Nur was soll das eigentlich genau heißen? Das Virus verbreitet sich so oder so. Das lässt sich nach einem Jahr Pandemie nun ziemlich sicher vorhersagen. Welchen Einfluss die Maßnahmen darauf haben, bleibt ungeklärt, da gezielte Studien einfach nicht gemacht werden. Bevor die Schulen in diesem Jahr wieder öffneten, stiegen bereits die Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen, was eher darauf hindeutet, dass es im privaten Umfeld häufiger zu Infektionen kommt, wenn Schulen geschlossen sind. Dennoch hält sich die These von den Schulen als Pandemietreiber, die besonders scharf mit Maßnahmen geschützt werden müssten.
Die Politik hat nun ein riesiges Problem, da so viele geforderte Maßnahmen wie zuletzt stationäre Raumluftfilter, die neuerdings vom Bund bezuschusst werden, aufgrund von Eingriffen in die Bausubstanz von Schulgebäuden gar nicht so schnell umsetzbar sind. So sind für solche Vorhaben wieder Ausschreibungen und Vergabeverfahren auf kommunaler Ebene erforderlich. Das kostet Zeit und Personal. Beides ist eher spärlich gesät. Das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis vieler Eltern und Lehrer ist dabei maßgeblich, aber durch die anhaltende Pandemiehysterie der Politik auch hausgemacht. Dass das Virus nie eine ernsthafte Gefahr für Kinder und Jugendliche war und sich augenscheinlich sogar abschwächt, obwohl es leichter übertragbar wird, trägt nicht zur Entspannung bei. Im Gegenteil. Dem Paniknarrativ müssen weiter irgendwelche Taten oder symbolische Akte folgen.
Dann spricht man eben skandalisierend von Durchseuchung und hackt auf der STIKO herum, so als ob die natürliche Infektion etwas ist, dass vermieden werden müsse oder sich auch vermeiden lasse. Dabei zeigt selbst die Surveillance der Impfkampagne, dass es eine sterile Immunität nicht geben wird, egal wie hoch Impfziele noch geschraubt werden. Infektionen sind bei Geimpften auch weiterhin möglich und zwar durchaus mehrfach, wie das nun einmal so ist bei Atemwegsinfekten. Das Coronavirus verhält sich offenbar nicht anders als andere Erreger. Dennoch ist der Impfschutz wichtig, gerade für Ältere und diejenigen, die zu den Risikogruppen gehören. Eine Impfung reduziert schwere Verläufe. Da Kinder und Jugendliche aber keine schweren Verläufe befürchten müssen, hat eine Impfung, die nur einen schweren Verlauf verhindert, relativ wenig Sinn.
Other health problems
Auch das Argument mit möglichen Langzeitfolgen nach einer natürlichen Infektion überzeugt nicht mehr, da sich Kinder, aber auch Erwachsene, ob nun geimpft oder nicht, eben trotzdem weiter anstecken können. Man erinnere sich nur an Panik-Karl, der mal twitterte, dass selbst leichte oder unbemerkte Verläufe zu Langzeitschäden führen könnten. Tja, das ist dann eben mit oder ohne Impfung so. Allerdings hat die STIKO auch deutlich gemacht, dass es bislang keinerlei belastbare Daten zu möglichen Langzeitfolgen nach überstandener Infektion bei Kindern gibt. Das bedeutet, dass alle, die nicht zu den Risikogruppen gehören, mit dem Virus auch ohne Impfung leben können. Das ist natürlich eine ernüchternde Erkenntnis nach all der Panikmache und Ressourcenverschwenderei.
Das beginnen nun auch Teile der Politik zu begreifen, die ja nicht mehr umhin können, die Einschränkungen zu beenden, wenn niemand mehr ernsthaft erkrankt. Leider wird über Erkrankungen kaum gesprochen. Noch immer hängt alles an einer fragwürdigen Meldeinzidenz, die inzwischen mit einer Stelle nach dem Komma angegeben wird, um minimale Bewegungen in Schlagzeilenform aufbereiten und dramatisieren zu können. Dabei haben sich die Hospitalisierungen und Todesfälle längst von der Entwicklung der Inzidenz abgekoppelt. Das zeigt das Beispiel England. Der neue Gesundheitsminister dort, Sajid Javid, sagt, dass man sich nun wieder anderen „health problems“ widmen müsse und nicht nur an Covid denken solle. Der Impfstoff erfülle seinen Zweck.
Dass mit der Kritik an der STIKO hierzulande ein Popanz aufgebaut wird, hat vermutlich auch damit zu tun, dass das Impftempo nun spürbar abnimmt, obwohl jetzt endlich genug Impfstoff für alle verfügbar ist. Die einen reagieren darauf mit Drohungen, andere wiederum mit Angeboten an sogenannte „Impfmuffel“. Unterm Strich führt aber kein Weg an der simplen Wahrheit vorbei, dass die politische Führung bei der Beschaffung der Impfstoffe und der Umsetzung der Kampagne kläglich versagt hat. Es werden vermutlich riesige Mengen übrigbleiben. Man könnte diese Kontingente ja an die Staaten verschenken, die bislang nicht mal ihre vulnerable Bevölkerung impfen konnten, weil sich der reiche Teil der Welt, die begrenzten Ressourcen als erstes unter den Nagel gerissen hat.
Bildnachweis: Screenshot, Zeit Online, 6. Juli 2021
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.