Es geht gerade etwas herum. Viele Kinder sind derzeit krank, einige Erwachsene auch. Sie haben Fieber und fühlen sich nicht wohl. In Corona-Sprech: Wir haben ein Ausbruchsgeschehen. Nur: Es ist kein Corona, sondern ein normaler Infekt, wie er auch mal im Sommer auftreten kann und den die niedergelassenen Ärzte registrieren. Wie hoch die Inzidenz wohl liegt und ob Maßnahmen bis hin zu einem Lockdown gerechtfertigt wären? Nein, an so etwas denkt niemand, obwohl die Krankheit ansteckend ist. Wir haken das unter Lebensrisiko ab. Anders bei Corona. Dieses Virus ist in Deutschland inzwischen weit zurückgedrängt, doch die Panikschraube, sie wird nach dem Ausscheiden der Nationalmannschaft bei der Euro 2020 noch einmal deutlich angezogen.
Schwer zu sagen, was passiert wäre, hätte das DFB-Team gestern die Engländer im Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaft geschlagen. Nach München wären Jogis Jungs nicht zurückgekehrt, sondern nach Rom. Dort spielen nun England und die Ukraine im Viertelfinale gegeneinander. Auf der Insel sind nach dem Sieg gegen Deutschland die Dämme gebrochen. „Time to dream“. Man stelle sich vor, England schafft es ins Halbfinale und ins Endspiel. Beide Partien finden in Wembley statt, vor dann 60.000 Zuschauern. Es wäre die größte Kulisse bei einem Sportevent in Großbritannien seit 15 Monaten.
Insel testet die Normalität
Das hat bereits im Vorfeld zu sehr viel Kritik geführt. Vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich und in Italien stießen die Zuschauerpläne mit Verweis auf die Pandemie auf Ablehnung. Durchaus zurecht. Denn die Infektionsrate (7-Tage-Inzidenz), sie liegt im Vereinigten Königreich derzeit bei über 180. So ein Wert hätte in Deutschland längst die Bundesnotbremse mit Ausgangssperren reaktiviert (heute letzter Tag der Regelung) und zu Schulschließungen und Distanzunterricht geführt. Der Münchner Stadtrat hätte vermutlich einen Antrag formuliert, in dem steht, dass die Lichter der Allianz Arena ausbleiben müssten und das Viertelfinale Belgien gegen Italien am 2. Juli nicht stattfinden dürfe.
Den Briten sind die Inzidenzen mittlerweile aber egal und der neue Gesundheitsminister hat bereits angekündigt, dass Schluss sein müsse mit den Limits, vor allem in den Schulen. Premier Boris Johnson sitzt ohnehin in der Zwickmühle. Er kann der fußballbegeisterten Nation den Spaß nun nicht mehr verderben. Außerdem will der Premierminister die Weltmeisterschaft 2030 ins Land holen. Da ist trotz Pandemie und Delta-Variante ein höchstes Maß an Flexibilität gegenüber Verbänden gefragt, die ihr eigenes Wohl und den bestmöglichen Deal an die erste Stelle setzen. Und so wird sich zeigen, ob die Kassandrarufe aus Ländern wie Deutschland, die in den kommenden Tagen noch zunehmen werden, tatsächlich auch zutreffen. Ein großes Experiment nimmt seinen Lauf, dessen Ausgang auch dazu führen kann, dass die panische Angst vor einem Virus und seinen Mutanten endlich endet.
Die Insel testet die Normalität unter hoher Inzidenz. Doch was passiert im Gesundheitssystem? Gibt es mehr Erkrankungen, schwere Verläufe und Tote? An Leichenberge glaubt angesichts des Impffortschritts in den vulnerablen Gruppen wohl niemand mehr, weshalb nun wieder Kinder und Jugendliche in den Fokus rücken. Die seien angeblich stärker betroffen und füllten mitunter bereits die Krankenhäuser. Nein, das ist wieder nur eine aus der Luft gegriffene Behauptung, die ungeprüft verbreitet worden ist. Die Daten geben das nicht her, wie inzwischen auch der Tagesschau Faktenfinder bemerkt. Eine der lautesten Alarm-Sirenen, Karl Lauterbach, muss dabei ein weiteres Mal einräumen, es mit den Fakten nicht so genau genommen zu haben.
Im Gespräch mit tagesschau.de erklärte Lauterbach dazu, er habe sich bei seiner Aussage auf einen Minister aus Schottland bezogen, der von mehr Kindern in Krankenhäusern berichtet, dies später aber wieder relativiert habe. Tatsächlich zeigten die Zahlen aus Großbritannien keine deutlichen Steigerungen, sagte Lauterbach. Er verwies allerdings auf Erkenntnisse zu „Long Covid“ bei Kindern und Daten aus den USA sowie Indien, die schwerere Verläufe bei Kindern und Jugendlichen anzeigten. Daher bleibe er bei seiner Einschätzung, Impfungen seien wichtig und notwendig, um Kinder und Jugendliche vor der Delta-Variante zu schützen und das Infektionsgeschehen einzudämmen.
Die wissenschaftliche Diskussion ist erbärmlich
Und weil die Zahlen nicht stimmen, wird wieder evidenzbefreit in die Zukunft orakelt mit einer Langzeiterkrankung, die erst noch genauer untersucht werden muss. Lauterbach tut aber auch hier wieder so, als sei alles bereits klar und eine dringende Impfung der Jüngsten unbedingt erforderlich, obwohl Deutschland immer noch ein Problem mit der Risikogruppe der gefährdeten Älteren hat, die weiterhin auf einen Termin im Impfzentrum warten. Aber nicht nur er, Teile der Wissenschaft haben sich längst für politische Zwecke einspannen lassen. Frank Lübberding hat für die Welt den „Fall Schrappe“ aufgearbeitet und schreibt:
Es gab eine unheilige Allianz aus Wissenschaftlern, Medien und Politik. Einige Wissenschaftler deklarierten, was Wissenschaft ist – nämlich nur ihre jeweilige Position. Medien sorgten für die nötige Reichweite, indem sie Gegenpositionen als unwissenschaftlich und gefährlich abqualifizierten. Das hatten schließlich die von ihnen zitierten Wissenschaftler so gesagt. Die Politik wiederum legitimierte ihre Entscheidungen mit den Einschätzungen jener Wissenschaftler, die das sagten, was die Politik aus unerfindlichen Gründen hören wollte: Dramatisierung anstatt Entdramatisierung.
Allerdings geriet diese Allianz mit dem weitgehenden Zusammenbruch ihrer wissenschaftlichen Annahmen selber unter Legitimationsdruck. Das zeigte sich spätestens, als die Arbeitsgruppe um Schrappe Mitte Mai ihre Ergebnisse über die tatsächliche Lage auf den Intensivstationen vorlegte. Die „Angst vor knappen Intensivkapazitäten oder der Triage war unbegründet“, so Schrappe.
Die wissenschaftliche Diskussion hierzulande ist erbärmlich, die Beratung der Politik zudem sehr einseitig. Entsprechend absurd fallen die Beschlüsse von Krisenstäben und Parlamenten aus. Die Abgeordneten hätten sich daran gewöhnt, Grundrechte auf Vorrat zu beschneiden, urteilt zum Beispiel Susanne Gaschke in einem Kommentar.
Sprecher der großen Koalition verbreiteten allen Ernstes, man könne ja zu einer Sondersitzung des Bundestags zusammenkommen, um den Ausnahmezustand aufzuheben, wenn sich die Lage weiter entspanne. Wie bitte? Die Inzidenz liegt nicht mehr bei 200, sondern unter sechs. Wie soll sich die Lage denn weiter entspannen? Indem Tote auferstehen?
Man spielt im Team Vorsicht bekommt man oft zu hören. Doch diese Vorsicht ist unbegründet, weil sie nur auf der Annahme fußt, die Entscheidung x oder y könnte eine furchtbare Entwicklung z zur Folge haben. Aber genau wissen, tut man es nicht. Und das ist das Problem. Noch immer will man sehr wenig über diese Pandemie wissen, außer dass das Virus ansteckend ist, wie andere Erreger auch, die gerade wieder herum gehen und niemanden ernsthaft besorgen, geschweige denn dazu veranlassen, das öffentliche Leben wochen- und monatelang einzuschränken. Und weil man nichts wissen will, ist plötzlich von falschen Signalen die Rede, die angeblich von vollen Stadien ausgehen, obwohl dort nur Menschen eingelassen werden dürfen, die geimpft, getestet oder genesen sind.
Das Virus ist berechenbar, die Politik nicht
Man könnte also untersuchen, wie sich solche Events auswirken, ob die Strategie der Pandemibekämpfung aufgeht oder ein anderer Weg eingeschlagen werden muss. Das öffentliche Leben als Chance, aber nein, selbst wissenschaftliche Untersuchungen hierzulande über Zuschauer in Arenen und Hallen werden ignoriert, weil Team Vorsicht mehr Applaus verspricht. So muss es dann der populäre Fußball mit seinen skrupellosen Verbänden richten oder der Tourismus, der für einige Länder wie Portugal zum Beispiel überlebenswichtig ist. Ökonomische Interessen setzen sich jetzt durch, wo das Pandemiemanagement kläglich versagt. Die Portugiesen lassen die Briten ins Land. Deutschland erklärt wiederum Portugal zum Variantengebiet und schickt selbst vollständig geimpfte Reiserückkehrer in Quarantäne. Wie absurd.
Vollständig gegen Corona Geimpfte nach der Rückkehr aus Variantengebieten unter Quarantäne zu stellen, ist epidemiologisch sinnlos und schadet der Akzeptanz der Impfungen bei der Bevölkerung, sagt der Virologe und Epidemiologe Alexander Kekulé. Und er hat recht. Das Virus ist berechenbar, die Politik nicht. Erst lässt man Reisen zu, dann werden plötzlich wieder Beschränkungen erlassen. Es gibt keine sterile Immunität, antwortet Kekulé auf den Kanzleramtsminister, der nach Ansicht des Virologen Falschinformationen verbreitet. Das bedeutet, dass es immer wieder zu Infektionen kommen wird, trotz Impfung oder bereits überstandener Erkrankung. Das ist alles vollkommen normal und gehört dann langsam mal zum Risiko. Was die Politik aber macht, ist vor jeder Mutation eines bestimmten Virus erst einmal panische Angst zu haben und das öffentliche Leben möglichst einzuschränken. Das ist die bekannte Methode Holzhammer, bei der auch wieder Versprechen über Bord geworfen werden, wie das, wonach die Impfung ein Schritt zurück in die Freiheit sei.
Darauf haben sich viele Menschen verlassen, auch wenn eigentlich der Schutz vor einer Krankheit das Leitmotiv für eine Impfung sein sollte. Viele lassen sich aber impfen, damit dieser Alptraum endlich endet und sie beispielsweise wieder sorgenfrei in den Urlaub fahren können. Pustekuchen. Die Politik hat es sich mal wieder anders überlegt, auch weil sie sich noch immer weigert, erstens Daten verlässlich zu erheben und zweitens diese nüchtern zu betrachten. Stattdessen wird ständig der Pandemieteufel an die Wand gemalt. Erst Impfung dann Ferien, sagt beispielsweise die niedersächsische Gesundheitsministerin Daniela Behrens. Nur warum? Die Impfung ändert nichts. Das ist die Botschaft, die gerade ausgesandt wird. Die Impfbereitschaft könnte also nachlassen, weil die Politik willkürlich und auf Grundlage zweifelhafter Annahmen immer noch über den Alltag der Menschen bestimmt. Das ist lächerlich. Das Team Vorsicht ist lächerlich. Wir werden von ängstlichen Idioten regiert.
Voltaire würde enden mit Écrasez l’infâme!
Bildnachweis: Peter H auf Pixabay
JUN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.