Delta-Variante breitet sich in den Medien am stärksten aus

Geschrieben von: am 19. Jun 2021 um 14:37

Was tun, wenn die Inzidenz weiter sinkt und sinkt? Man warnt vor den Lockerungen und fürchtet sich plötzlich vor der nächsten Virus-Mutation. Die Delta-Variante, die gerade in Großbritannien zu mehr Fällen führt, breitet sich noch schneller in deutschen Medien aus. Dabei stammt die Variante aus Indien, wo die Welle schon wieder vorüber ist. Man möchte meinen, dass es von dort nun Erfahrungen gebe, mit denen sich sachlich arbeiten ließe, aber damit haben es die Berichterstatter nicht so sehr. Alles ist noch viel gefährlicher, wegen Symptomen, die man nun leicht mit einer Erkältung verwechseln könnte und dann auch noch Lissabon, das seit gestern +++Eil++Eil++Eil+++ abgeriegelt (sic!) ist. In London wird vermutlich trotzdem das Finale der EM gespielt.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie erstaunt die Öffentlichkeit doch über die Zunahme von Infektionen ist, sobald man das erlaubt, was gemeinhin unter dem Begriff Leben verstanden wird. Gibt es mehr Kontakte zwischen den Menschen, gibt es auch wieder mehr Infektionen. Diese simple Kausalität dürfte eigentlich niemanden mehr überraschen. Bescheuert ist es dann auch anzunehmen, es würde nichts passieren, wenn man Kontakte in dem Bewusstsein niedriger Inzidenzen wieder zulässt. Vielleicht sollte die Politik noch einmal deutlich machen, dass die Zunahme von Fällen unter den gegebenen Bedingungen etwas völlig Normales ist. Sie tut aber genau das Gegenteil. Sie lockert Maßnahmen in der Hoffnung, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie appelliert an die Bürger, weiterhin vorsichtig zu sein, damit es ja keine neuen Ansteckungen gibt. Das ist schizophren.

Lockerungen bedeuten, Infektionen bewusst in Kauf zu nehmen, andernfalls müsste man ja alles geschlossen halten, ein Traum, den so mancher Aktivist immer noch gern verwirklicht sehen möchte und sich darin auch bestätigt fühlt, sobald die Zahlen wieder steigen. Und so wechseln sich Forderungen nach Lockerungen und Verschärfungen weiter ab. Alles dreht sich im Kreis. Vielleicht verbreitet sich die Delta-Variante ja gar nicht schneller, sondern genau so, wie es die andere Variante mit dem angeblichen Raketenantrieb auch getan hätte, wenn man die Öffnungen zugrunde legt, die es inzwischen gegeben hat. Heißt das nun aber, alles wieder einschränken zu müssen? Nein. Denn selbst die vielzitierten Bedenkenträger, die zum Ausklang dieser Woche wieder inflationär zu Wort gekommen sind, verweisen darauf, dass es vor allem die Leute betrifft, die noch nicht geimpft sind. Die Infektionen hätten sich in England vorwiegend in den Impflücken abgespielt, sagt Christian Drosten.

Ist die Impflücke nun sonderlich gefährdet? Eher nicht, denn bislang verharren die Todeszahlen in Großbritannien auf niedrigem Niveau. Ob das Land tatsächlich am Beginn einer neuen Krankheitswelle steht, ist bislang unklar. Und wer sollte darüber hinaus auch gefährdet werden, wenn doch Risikogruppen zunehmend geimpft sind. Deutschland ist hingegen auf dem Weg, Niedriginzidenzeuropameister zu werden. Die Marke von 10 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen ist unterboten. Theoretisch sollte nun die Kontaktnachverfolgung einen erneuten Anstieg der Fälle verhindern. So hatten es die NoCovid und Zero-Covid Aktivisten immer erklärt. Doch genau die sind jetzt wieder als Alarmisten in den Medien unterwegs, vielleicht weil die Sache mit der Kontaktverfolgung eben doch nicht funktioniert bei einer Infektion, die manchmal gar nicht bemerkt oder von der Symptomatik her, erneut mit einer anderen Erkrankung der Atemwege verwechselt wird.

Das Virus wird seinen Schrecken verlieren, hatte das Kanzleramt nach dem Beschluss der Bundesnotbremse prophezeit. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln. Die Fallzahlen werden trotzdem wieder steigen, vor allem zum Herbst und Winter hin. Das ist kein Grund zur Sorge. Bedenklich bleibt hingegen das Pandemiemanagement und die Impfstrategie. Denn im Unterschied zu anderen europäischen Staaten ist es Deutschland nicht gelungen, die Sterblichkeit stärker zu senken und die Erkrankten auf den Intensivstationen. Das bedeutet aus Sicht des Virologen und Epidemiologen Alexander Kekulé, dass einfach die falschen Leute geimpft und Fehler bei der Priorisierung gemacht werden. Es ist auch nicht zu verstehen, warum die Politik bei knappem Impfstoffangebot die Priorisierung aufhebt und am liebsten sogar die Kinder zum Impfen bitten würde, während Menschen aus den Risikogruppen auf den Wartelisten versauern.


Bildnachweis: André Tautenhahn

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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