Die Meldeinzidenzen sinken, immer mehr Landkreise sind schon unter der Marke von 10, manche sogar bei 0. Eigentlich müssten die restlichen Beschränkungen jetzt zügig aufgehoben werden, doch die Landesregierung kann mit den stark fallenden Infektionszahlen einfach nicht umgehen. Sie stellt zwar weitere Lockerungen in Aussicht, will aber erst einmal abwarten, welchen Einfluss die bereits erfolgten Lockerungen auf das Infektionsgeschehen haben. Die Antwort ist leicht. Keine.
Woher der Autor das weiß? Von der Landesregierung selbst, die als Begründung für ihr vorsichtiges Verhalten die Gefahr von Virusmutationen und eine mögliche vierte Welle im Herbst angibt. Das zeigt, dass der Verordnungsgeber noch immer keinen blassen Schimmer über die eigentliche Infektionsdynamik hat und daher auch nicht sicher wissen kann, welche Maßnahmen wie wirken.
Stattdessen sollen aber die nächsten Tage und Wochen noch damit verbracht werden, auf eine mehr als fragwürdige Meldeinzidenz zu starren, die bereits den Wert unterschreitet, den der Bundesgesundheitsminister zuletzt als neue Zielmarke – vermutlich in gegenteiliger Erwartung – für einen unbeschwerten Sommer ausgerufen hat.
Doch von Unbeschwertheit keine Spur, der Bundestag soll noch in dieser Woche die epidemische Lage nationaler Tragweite für maximal drei Monate verlängern. Der Ausnahmezustand müsse auch deshalb fortbestehen, weil in den meisten Kreisen immer noch ein diffuses Geschehen vorherrsche. So steht es im Antrag der Bundesregierung.
Laut Einschätzung des RKI handelt es sich in den meisten Kreisen immer noch um ein diffuses Geschehen, sodass oft keine konkrete Infektionsquelle ermittelt werden kann und man von einer anhaltenden Zirkulation in der Bevölkerung (Community Transmission) ausgehen muss.
Bundesrechnungshof rügt Fehlanreize
Mit anderen Worten. Das amtliche Unwissen bestimmt das Handeln. Es sei auch weiterhin erforderlich, die ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit möglichst zu reduzieren und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Zumindest in diesem Punkt scheint es jetzt mehr Klarheit zu geben, wie NDR, WDR und Süddeutsche heute berichten.
Demnach kritisiert der Bundesrechnungshof das Gesundheitsministerium dafür, gefährliche Fehlanreize in Kliniken zugelassen zu haben. Das hatte zur Folge, dass die Zahl der freien Intensivbetten künstlich nach unten gerechnet wurde. Trifft der Bericht zu, ist das ein Skandal, weil die Bundesregierung wie auch die Verordnungsgeber in den Ländern sämtliche Einschränkungen und Maßnahmen auf die ausgelasteten Behandlungsplätze stützen.
Bemerkenswert ist, dass es die Ansicht des RKI war, dass die vom DIVI-Zentralregister gemeldeten Daten nicht mehr für eine Bewertung der Situation geeignet sein können. Da stellt sich doch die Frage, ob es überhaupt noch vertretbar ist, wenn sich Bund und Länder auf diese Daten berufen, obwohl doch die eigene Behörde davon abrät.
Darüber hinaus gelinge es dem zuständigen Ministerium nicht, überhaupt die Anzahl der Betten verlässlich zu benennen oder zu erklären, was mit Geldern für die Schaffung zusätzlicher Intensivkapazitäten geschehen ist. Es müssten weitere Behandlungsplätze verfügbar sein, diese sind laut Rechnungshof aber nicht auffindbar. Der Verdacht steht im Raum, dass es zu Mitnahmeeffekten gekommen ist.
Die scharfe Kritik der Prüfer bestätigt damit auch die Experteneinschätzung des Gesundheitsökonomen Matthias Schrappe, der dafür vor ein paar Wochen noch viel Prügel einstecken musste. Er sagte, dass bei den Intensivstationen seltsame, unverständliche Dinge vorgingen. Das ist wohl zutreffend. Aus Sicht von Gesundheitsminister Spahn sind nun aber die Länder Schuld, die die Gelder verwaltet haben.
Seltsame Debatten
Seltsam ist auch, dass der Fortschritt beim Impfen eben nicht als Argument für die Aufhebung der Beschränkungen gewertet wird, sondern dagegen. Die Bundesregierung erklärt in ihrem Antrag, dass Virusvarianten (Escape-Mutationen) auftreten und sich verbreiten könnten, die eine „verringerte Sensitivität gegenüber den gegenwärtig gebräuchlichen Impfstoffen haben.“
Der niedersächsische Ministerpräsident wiederum wertet das zurückgehende Infektionsgeschehen nicht als Lichtblick, sondern als Versuchung, die zum Leichtsinn führen könnte. „Wir sind eben tatsächlich derzeit noch auf relativ schwankendem Boden unterwegs.“ Bei übermäßigem Alkoholkonsum mag das stimmen, aber sonst nicht, da die Werte seit Wochen nur eine Richtung kennen.
Die zögerliche Haltung ist unverständlich und auch zunehmend unbegründet. Während andere Länder viel weitergehen und Einschränkungen einfach aufheben, heißt es aus einer deutschen Regierungszentrale wie der in Hannover, dass man nun zwei Wochen benötigt, um eine weitere Lockerung der Kontaktbeschränkungen auf den Weg zu bringen. Wie viel Seiten Verordnungstext werden es wohl sein?
Und während Länder wie Dänemark inzwischen auch die Maskenpflicht aufheben, diskutiert die deutsche Öffentlichkeit leidenschaftlich über verschiedene Standards von Schutzausrüstung sowie über die Frage, ob Bedürftige mit Masken minderer Qualität bedacht werden sollten. Erregung herrscht dann auch, wenn sich der Top-Virologe des Landes im Umgang mit anderen wie ein normaler Mensch verhält.
Ist es also wirklich notwendig, den Ausnahmezustand und damit die irrlichternde Verordnungspraxis künstlich zu verlängern oder nicht vielleicht doch besser, endlich zum Pragmatismus zurückzukehren. Das würde vermutlich auch verhindern, dass Minister wie Jens Spahn weiterhin mit Unsummen an Steuergeldern um sich werfen. So sollen Apotheker jetzt 18 Euro für die Ausstellung eines QR-Codes (nachträgliches Impfzertifikat) erhalten. Absurd.
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JUN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.