Die neue Corona-Verordnung des Landes hat jetzt ein Inhaltsverzeichnis, darüber hinaus 39 Paragraphen und ist über 60 Seiten lang. Es soll wohl eine Masterarbeit sein. Erklärt wird darin, wie man sich die Aufhebung von Beschränkungen vorstellt. Die vielen Verbote ließen sich dagegen auf deutlich weniger Seiten beschreiben.
Die Vorsicht ist weiterhin die Mutter der Porzellankiste. Allerdings gehen der Landesregierung die Argumente aus. Inzwischen dient ein Verweis auf das RKI als Notbehelf. Die Behörde, die dem Bundesgesundheitsministerium untersteht, schätzt trotz des Rückgangs der Fallzahlen die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als weiterhin hoch ein. Das reicht, um den Vogel im Verordnungswahnsinn abzuschießen. Der Stufenplan ist nun eingearbeitet, aber wirklich ernst wird er dann doch nicht genommen.
Man schreckt davor zurück, die Maßnahmen komplett aufzuheben, wo die Inzidenz bereits unter 10 gefallen ist, also da, wo der Chef des RKI, Lothar Wieler, und die NoCovid-Fraktion immer hin wollte. Begründet wird das so.
Würde man in den jetzt unter 10 liegenden vereinzelten Landkreisen die Schutzmaßnahmen fast vollständig aufgeben, wäre ein Pull-Effekt zu befürchten. Beispielsweise würde dann eine ohne nennenswerte Schutzvorkehrungen im Landkreis Cuxhaven geöffnete Diskothek voraussichtlich Gäste aus umliegenden Landkreisen mit höheren Inzidenzen anlocken oder auch aus Hamburg, Bremen oder Hannover. Zur Vermeidung von Pull-Effekten muss zur Umsetzung des Wegfalls der Beschränkungen zunächst fast landesweit eine stabile Lage <10 erreicht sein.
Quelle: Niedersächsische Staatskanzlei
Und wenn das landesweit erreicht ist, muss es bundesweit erreicht sein. Und wenn es bundesweit erreicht ist, dann muss der Wert erst europaweit und weltweit erreicht werden. Das ist nicht wirklich überzeugend, genau wie ein befürchteter Pull-Effekt. Der ist eine reine Einbildung und bereits verworfen worden, als es um die Beherbergungsverbote ging. Die Landesregierung vermutet wieder herum, obwohl sie doch mehr Grund zu der Annahme haben müsste, dass sich der Abwärtstrend bei den Fallzahlen einfach fortsetzt, egal was man gerade tut.
Selbst wenn die Inzidenzen wieder steigen sollten, dann ja nur in den Teilen der Bevölkerung, die mit der Erkrankung kein sonderliches Problem mehr haben. Man muss sich angesichts der übertriebenen Vorsicht der Landesregierung schon fragen, warum sie sich ständig für ihre Impferfolge feiert. Werden die Risikogruppen nun ausreichend geschützt oder nicht? Falls sie geschützt sind, gibt es keinen Grund mehr für einen ausgeprägten Paragraphenirrsinn, den man dann auch noch mit „Mehr Freiheiten, mehr Aktivitäten und mehr Miteinander“ überschreibt.
Wieso wird nicht endlich mehr Zeit und Arbeit in ein Pandemiemanagement investiert, dass zu mehr Wissen führt? Bis zum Herbst ist es nicht mehr lange hin. Zu diesem Zeitpunkt könnten die Zahlen ja durchaus wieder ansteigen und die Panik geht von vorne los. Da braucht es etwas anderes, als eine Verordnung, die dann möglicherweise den Umfang einer Doktorarbeit hat.
Bildnachweis: Screenshot, Niedersächsische Staatskanzlei, Inzidenzampel, 30. Mai 2021
MAI
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.