Da die Inzidenzen, die immer noch als Maßstab für alle Vorschriften gelten, im Rekordtempo nach unten rauschen, werden auch die Stufenpläne, in denen penibel genau erklärt wird, was geht und was nicht, quasi von der Realität überrollt. Warum sollte man sich noch mit der einen Stufe ernsthaft auseinandersetzen, wenn nach ein paar Tagen ohnehin die Voraussetzungen für die nächste oder übernächste gegeben sind oder gar das NoCovid-Ziel in Sichtweite gerät? Antwort: Den Stufenplan kann man vergessen, weil er noch gar nicht Bestandteil der Landesverordnung ist. Man hatte wohl gedacht, mehr Zeit zu haben. Nur lässt sich mit dem Virus nicht verhandeln.
Etwas ratlos steht die Politik vor den Infektionszahlen. Nun ist man der Ansicht, dass neben den Impfungen auch die Vielzahl an Corona-Schnelltests zur Abwärtsdynamik beigetragen habe. Positive Fälle konnten früher erkannt und damit weitere Ansteckungen vermieden werden. Das mag teilweise zutreffen. In erster Linie hilft das Framing aber dabei, die Fehler zu überdecken, die im Rahmen der Impfkampagne wie auch bei der Zulassung der Schnelltests gemacht worden sind. Im Grunde erklären Impfungen und Schnelltests die starken Rückgänge bei den Infektionen nämlich nicht. Es ist doch eher die Saisonalität, von der die Politik nie etwas wissen wollte, weil man lieber fest an Mutanten und deren Raketenantriebe glaubte.
Hellere Tage und ein natürlicher Lauf der Dinge lassen sich allerdings auch schlecht auf die eigene Fahne schreiben, weshalb der Erfolg von Maßnahmen besonders betont werden muss. Das ist politisch legitim. Der Stufenplan 2.0, den die Landesregierung hier in Niedersachsen vor kurzem vorstellte, ist aber trotzdem Makulatur, da bereits nach Pfingsten in vielen Landkreisen ein Zustand erreicht sein dürfte, der kaum noch irgend eine Beschränkung rechtfertigt. Man könnte dann auch sagen, dass die Gesundheitsämter wieder in der Lage sein müssten, sämtlichen Kontakten nachzugehen, da die dafür erforderlichen Zielmarken, die die Politik einst vorgegeben hatte, deutlich unterschritten werden.
Doch bis dahin wird eine andere Diskussion weiter an Fahrt gewinnen. Mit Raketenantrieb sozusagen. Und zwar die Debatte über das grandiose Eigentor, dass die Bundesregierung mit den Sonderregeln für Geimpfte und Genesene aus der Not heraus geschossen hat. Denn nun wollen viele die Spritze, um pünktlich und ohne lästige Schikanen in den Sommerurlaub reisen zu können. Die ersten Hausärzte kapitulieren daher und ziehen sich auch aus Frust bereits aus der Impfkampagne zurück. Grund: der weiterhin bestehende Mangel an Impfstoff, dem eine deutlich gestiegene Nachfrage gegenübersteht. Wenn im Juni die Priorisierung fällt, wird man die impfwillige Bevölkerung kaum nur mit Terminzusagen zufriedenstellen können.
Die Politik muss daher jetzt rasch ihren Fehler erkennen und einsehen, dass die gewollte Ungleichbehandlung beendet werden muss. Die Beschränkungen müssen fallen und zwar für alle. Das lässt die Entwicklung bei den Inzidenzen, so wie sie sich gegenwärtig abzeichnet, auch zu. Es ist an der Zeit auf einige wenige Vorgaben, da wo es erforderlich ist und ansonsten auf Empfehlungen umzustellen und die seitenlangen Entwürfe von Stufenplänen, die ohnehin viel zu spät das Licht der Welt erblickten, wieder in der Schublade verschwinden zu lassen. Wer jetzt noch damit herumwedelt und erklärt, was morgen angesichts der Dynamik von heute schon wieder Schnee von gestern ist, macht sich zum Gespött.
Bildnachweis: Screenshot, HAZ vom 19. Mai 2021
MAI
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.