Das Ziel im Blick behalten

Geschrieben von: am 17. Mai 2021 um 21:15

Die Aufhebung sämtlicher Maßnahmen und vor allem die Rücknahme der Grundrechtseinschränkungen ist das erklärte Ziel. Doch was die Politik daraus macht, wird immer abstruser. Sie gewährt Sonderrechte für Geimpfte und Genesene, was bei manchen mittlerweile in der Vorstellung gipfelt, dass Impftrödler selbstverständlich soziale Nachteile hinzunehmen haben. Da nun aber die Impfpriorisierung am 7. Juni enden wird , besteht kein Grund mehr für derlei absurde Gedankenspiele.

Das Ziel der Rücknahme von Einschränkungen wird nicht erreicht, indem man die Pandemie leugnet, die Wirksamkeit von Impfstoffen anzweifelt oder eine mögliche Gefährlichkeit der Vakzine aufgrund der kurzen Entwicklungszeit besonders herausstellt. Die richtige Strategie ist es, dafür zu sorgen, dass die Gründe für die Einschränkungen nicht mehr gegeben sind. Ganz simpel gesprochen: Wenn der Ausweg aus der Pandemie die Impfung ist, muss nur genügend Impfstoff für alle verfügbar sein. Dann ist die Pandemie beendet. Da nehme man die Politik doch endlich beim Wort.

Mit der Freigabe der Impfungen ist dieses Ziel überwiegend erreicht, auch wenn immer noch nicht genug Impfstoff für alle verfügbar sein wird. Was zählt, ist das Angebot und die Freigabe, die ja nur deshalb erfolgt, weil die Regierung eine Priorisierung der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen inzwischen für entbehrlich hält. Das geschieht ja nur, weil hier bereits viele Menschen durch Impfung geschützt sind. Insofern reicht es dann auch aus, zu milderen Mitteln zurückzukehren und beispielsweise auf Verhaltensempfehlungen zu setzen, wie sie schon immer im Umgang mit respiratorischen Viren gegolten haben.

Ein Status entscheidet

Es bedarf nun auch keiner gesonderten Gesetzgebung, um die vorpandemische Normalität wiederherzustellen. Grundrechte können nicht zurückgegeben werden, da man sie bereits hat. Sie sind unveräußerlich und unteilbar, können also weder gegeben noch genommen werden. Sie können aber eingeschränkt werden, wie das in der pandemischen Lage von nationaler Tragweite derzeit geschieht. Diese Einschränkungen bleiben bislang jedenfalls weiterhin erhalten und werden nun wiederum von einem Immunisierungsstatus abhängig gemacht.

  • Demnach gibt es Geimpfte. Das ist der einfachste Fall, wobei als vollständig geimpft nur derjenige gilt, der die erforderlichen Impfdosen erhalten hat. Das sind in der Regel zwei. Zu berücksichtigen ist dabei auch eine Wartezeit von zwei Wochen nach der letzten Dosis, weil erst dann gemäß der Definition der vollständige Schutz gegeben ist.
  • Dann gibt es Genesene, was schon schwieriger ist, weil es um den Nachweis einer bereits überstandenen Infektion geht. Ob die Person nun tatsächlich auch krank war, spielt keine Rolle. Es reicht ein positiver PCR-Test oder eine Quarantäneanordnung als Beleg. Das Enddatum der Quarantäne muss wiederum mindestens 28 Tage zurückliegen, darf aber nicht älter als sechs Monate sein.

Wer also vor sieben Monaten nachweislich mit dem Coronavirus infiziert war, gilt nicht mehr als Genesener, sondern wieder als Person ohne Immunitätsnachweis und das absurde Spiel in dieser neuen Normalität beginnt von vorn. Man kann es auch einfacher beschreiben. Als Gesunder muss man erst krank werden, damit man nach geltender Rechtslage als Genesener ein Kaltgetränk im Biergarten zu sich nehmen darf.

Verschobene Grundsätze

Die Debatte ist also merkwürdig verschoben und das Prinzip der rechtsstaatlichen Ordnung auf den Kopf gestellt. Der Grundsatz in dubio pro reo (Im Zweifel für den Angeklagten) ist in dem Moment aufgehoben, wenn der Vorwurf der Ansteckungsgefahr nicht mehr vom Ankläger Staat bewiesen, sondern vom Beschuldigten per Nachweis entkräftet werden muss. Diese seltsame Rechtsvorstellung macht alle Bürger zunächst zu hypothetisch Verdächtigen. Es wird einfach angenommen, dass Menschen ohne Impfung oder überstandene Infektion immer ansteckend sein können, sofern sie das Virus in sich tragen. Das ist aber nicht nur medizinisch strittig, sondern auch gesellschaftspolitisch fragwürdig.

Zunächst einmal wird vollkommen ignoriert, dass Menschen auch ohne Impfung oder nachgewiesener und überstandener Infektion immun sein können. Das ergibt sich allein schon aus der Logik der Infektion selber, die in den meisten Fällen asymptomatisch, also unbemerkt abläuft. Viele Menschen wissen also schlicht nicht, ob sie bereits infiziert waren. Sie gelten aber dennoch nicht als Genesene, da sie die Infektion nicht nachweisen können. Nur warum sollten sie das auch? Ignoriert wird weiterhin, dass ein Infizierter nicht zwangsläufig jeden seiner Kontakte ansteckt. Das unterscheidet Corona von anderen viel ansteckenderen Infektionskrankheiten wie beispielsweise den Masern, die auf einen sehr hohen R-Wert von 12 bis 18 kommen.

Das Coronavirus ist aber auch nicht Ebola, das zwar einen niedrigeren R-Wert aufweist, dafür aber in bis zu 90 Prozent der Fälle tödlich verläuft. Wenn der Staat nun darauf bestünde, wegen des Coronavirus‘ die Grundrechte von Menschen weiter einzuschränken, die weder geimpft noch beurkundet genesen sind, müsste er korrekterweise die fehlende Immunität selbst zweifelsfrei feststellen und eine damit verbundene Gefährdungslage begründet nachweisen. Das geschieht aber nicht, weil einerseits die rechtlichen Voraussetzungen dafür fehlen oder schlicht der Anlass nicht mehr gegeben ist, also eine außergewöhnlich hohe Sterblichkeit zum Beispiel bei dem Teil der Bevölkerung, der noch nicht geimpft ist.

Stattdessen wird das Rechtsstaatsprinzip einfach umgekehrt und jeder Gesunde, auch der Genesene nach sechs Monaten und künftig wohl auch der Geimpfte nach einem noch zu definierenden Zeitraum, in dem der Impfschutz verblasst und erneuert werden muss, automatisch wieder auf einen Zustand mit Grundrechtseinschränkungen zurückgestuft. Von einer Regierung, die demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze zum Maßstab erhebt, darf nach einem Jahr der Ausnahmeregelungen gern etwas mehr als ein dem Wesen nach autoritär auftretendes Pandemieregime erwartet werden.

Vorsorge, Eigenverantwortung und Solidarität

Die Lösung kann daher nur lauten, die Einschränkungen, die man zurücknehmen will, auch für alle zurückzunehmen und nicht nur für bestimmte Gruppen, die unter Umkehrung des Rechtsstaatsprinzips ihre temporäre Unschuld beweisen können. So logisch es auch sein mag, nachweislich Immunisierten Freiheiten zurückzugeben, so verwerflich ist es, diese allen anderen weiter vorzuenthalten, nur weil sie hypothetisch ansteckend sein könnten.

Der Standpunkt vieler Verfassungsrechtler lautet, dass man Menschen, von denen keine Gefahr mehr ausgehe, auch die Grundrechte nicht verwehren könne. Richtig, das ist ja offensichtlich der Fall, wenn die Impfpriorisierung aufgehoben wird. Es gilt also wieder das individuelle Prinzip der Vorsorge und der Eigenverantwortung. Jeder entscheidet selbst, wie er sich schützt und mit welchen Risiken er fortan leben möchte. Unter diesen Bedingungen erübrigt sich auch die Debatte um Impfdrängler oder Impftrödler.

Solidarität ist nicht, auf Grundrechte wegen möglicher Ansteckung zu verzichten. Solidarität ist, Menschen, die sich angesteckt haben und erkranken, Zeit zur Erholung zu geben. Die Realität in diesem Land sah aber bisher so aus, dass Menschen, die nachweislich krank waren, häufig trotzdem zur Arbeit gingen, weil sie fürchten mussten, ihre Jobs und damit ihre Existenz zu verlieren. Was tut der Staat eigentlich gegen die fortschreitende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Sich Zeit für die körperliche und seelische Gesundheit zu nehmen, ist ja in der marktkonformen Demokratie nicht effizient. Solche Auszeiten muss man sich leisten können.

Was wird also gegen die wachsende soziale Ungleichheit getan? Soll das restriktive Pandemiemanagement etwa Sozialpolitik ersetzen? In ihrem Armuts- und Reichtumsbericht deutet die Regierung das Grundproblem immerhin selber vorsichtig an: „Das möglicherweise höhere Risiko für eine COVID-19-Erkrankung und einen schweren klinischen Verlauf bei Menschen mit niedrigerem sozioökonomischen Status könnte sich aus sozialen Ungleichheiten im Infektionsrisiko ergeben, die durch die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen bedingt werden.“ Bravo. Aufgabe ist also nicht, Geimpfte und Ungeimpfte mit Grundrechten gegeneinander auszuspielen, sondern endlich die Verteilungsschieflage zu beheben und damit den zentralen Konflikt unserer Zeit zu befrieden.


Bildnachweis: 👀 Mabel Amber, who will one day auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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