Plötzlich herrscht Eile, aber…

Geschrieben von: am 03. Mai 2021 um 22:32

Plötzlich herrscht Lockerungs-Hektik, denn die offiziellen Fallzahlen entwickeln sich nicht so, wie vermutet. Eine Überlastung des Gesundheitssystem scheint vorerst abgewendet. Vermutlich waren die Horrorkurven der Modelle in Verbindung mit den Zahlen der Intensivstationen aber der Kern der Stellungnahme, die Berlin wegen der Bundesnotbremse nach Karlsruhe übermitteln muss. Eine von dort gesetzte Frist läuft diese Woche ab. Um nun einer Klatsche zuvorzukommen, es wäre die zweite binnen weniger Tage, will der Bund ebenfalls noch in dieser Woche eilig eine Verordnung erlassen, die eine Aufhebung von Einschränkungen für Geimpfte und Genesene vorsieht. An anderer Stelle, die eigentlich keinen Aufschub mehr duldet, ist dagegen wieder Zeit für die übliche Zankerei.

Offiziell wird die Eile mit dem flotten Zustandekommen der Grundrechtseinschränkungen begründet. Die Rücknahme müsse nun ähnlich schnell erfolgen. Nur gibt es Geimpfte und Genesene aber nicht erst seit ein paar Tagen. Trotzdem wirkt es nun allerdings wieder so, als hätte man sich während des seit November geltenden Lockdowns und der seit über einem Jahr andauernden Pandemie keine Gedanken über eine geordnete Rücknahme des Maßnahmenregimes gemacht. Das Vorhaben ist also erneut mit heißer Nadel gestrickt, aber diesmal ohne den üblichen Streit zwischen den Koalitionsfraktionen.

Der Verordnungsentwurf, den die Große Koalition einbringen will, sieht vor, die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen für vollständig immunisierte Bürger schon ab dem kommenden Samstag wegfallen zu lassen. Sie müssten dann auch keine Negativtests mehr vorlegen, wo das nach der geltenden Rechtslage erforderlich wäre, also im Einzelhandel etwa oder bei körpernahen Dienstleistungen. Das klingt nach einer simplen Angelegenheit, wirft aber eine Menge weiterer Fragen auf. Wie sollen die Behörden die politisch gewollte Ungleichbehandlung kontrollieren? Dazu wird es in dieser Woche sicherlich noch Antworten geben.

Klar ist aber schon jetzt, dass sich die Gräben innerhalb der Gesellschaft noch einmal vertiefen dürften. Denn warum sollten die Maßnahmen überhaupt noch akzeptiert oder im Zweifel auch durchgesetzt werden, wenn sie für einen Teil der Bevölkerung nicht mehr gelten? Die Politik hofft auf eine kurze Übergangszeit, bis allen ein Impfangebot gemacht worden ist, was mutmaßlich im Juni der Fall sein soll. Nur warum dann bereits jetzt das Oktoberfest im Herbst abgesagt worden ist, lässt sogar die Chinesen, zu denen sich das schnell herumgesprochen hat, etwas ratlos zurück.

…nicht bei der Pflege

Vielleicht war das ja etwas voreilig vom Team Vorsicht. Gänzlich ohne Eile kommt die Bundesregierung jedenfalls beim Thema Pflegenotstand aus. Immerhin: „Arbeitsminister Heil und Gesundheitsminister Spahn sind sich einig. Pflegekräfte sollen künftig nach Tarif bezahlt werden. Doch ihre Vorstellungen, wie sich dieses Ziel erreichen lässt, gehen weit auseinander“, wie unter anderem die Süddeutsche berichtet. Auch das passt ins Bild. Man simuliert Eile bei einem Thema, das schon seit Jahren auf der Tagesordnung steht, aber trotz größter Krise immer noch genug Zeit lässt, sich gegenseitig vor das Schienbein zu treten.

Die anstehenden Wahlen sind schließlich immer mitzubedenken. Hubertus Heil will daher ein Pflege-Tariftreue-Gesetz und unterstellt seinem Amtskollegen, bislang eher untätig geblieben zu sein. Jens Spahn wiederum kontert diese Attacke mit einem Verweis auf einen bereits vorliegenden Gesetzentwurf zur Pflegereform. Er betont, dass er damit nicht nur die Interessen der Pflegekräfte bedacht habe, sondern auch die der Pflegebedürftigen, die selbst immer mehr bei der stationären Pflege zuzahlen müssen. Nur ändert Spahns Entwurf daran kaum etwas, wie ein genauerer Blick verrät (hier und hier).

Dieser Blick weist übrigens auch auf den Pflege-Schwur aus dem Jahr 2018 hin, den Hubertus Heil, Jens Spahn und Familienministerin Franziska Giffey in trauter GroKo-Hamonie schlossen, um gemeinsam wichtige Ziele wie mehr Pflegefachkräfte, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne durchzusetzen. Die Ziele gibt es kurz vor dem Ende der Wahlperiode immer noch, auch die Ankündigungen über große Sonntagszeitungen, in denen steht, dass man sie nun auch wirklich erreichen wolle. Nur der Schwur von damals bleibt eine schöne Erinnerung an eine Zeit, als GroKo-Minister zeigen wollten, dass es Jamaika nicht braucht, um funktionierende Dreierbündnisse in der Sache schließen zu können.

Inzwischen kümmere sich Jens Spahn aber eher aufopferungsvoll um Apotheker und sorge sich auch um bestimmte Arbeitgeber in der Pflegebranche, wie der Sozialwissenschaftler Stefan Sell in einem weiteren Artikel zu einem Arbeitsentwurf für ein Pflegereformgesetz ernüchtert feststellt. Dieser, von Spahn auch aktuell wieder gelobte Gesetzesvorschlag, beinhalte demnach Formulierungen, die eine ordentliche Tarifstruktur unterlaufen, also eher nicht zu einer Verbesserung der Lage beitragen. Vielleicht sollte Franziska Giffey jetzt vermitteln. Doch die will regierende Bürgermeisterin von Berlin werden. Da bleibt dann keine Zeit mehr für Dinge, die man sich einmal geschworen hat.


Bildnachweis: Gino Crescoli auf Pixabay

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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