Das Ende der Pandemie naht. Der Chef des RKI wehrt sich zwar noch, aber inzwischen dürfte klar sein, Lothar Wieler wird seinen Stuhl bald räumen müssen. Die Behörde steht für eklatantes Versagen in der Corona-Pandemie. Seit einem Jahr gelingt es nicht, verlässliche Daten bereitzustellen oder zu erheben, auf deren Grundlage man brauchbare Aussagen tätigen oder Szenarien über den Fortgang der Pandemie entwickeln könnte. Die letzte Prognose, die Wieler und sein Team vorstellten, beschrieb eine Katastrophe. Inzwischen steht fest, das trifft nur auf die Projektion selbst zu.
Die zur Verfügung stehenden Daten über den Verlauf der Pandemie sind so mies, dass es für Politik, Wissenschaft und Verwaltung peinlich ist, urteilt der Journalist Jan-Martin Wiarda. Statt repräsentativer Stichproben gibt es Streit und Kaffeesatzleserei. Diese wird wiederum auf einem Niveau betrieben, das irgendwie nachdenklich und intellektuell daherkommt, aber ähnlich wie die Modellierungen des RKI eine schlichte Katastrophe ist. Vor allem hängen diese Diskussionen um Lichtjahre hinter der Wirklichkeit zurück. Dort wird inzwischen nach Pragmatismus verlangt, wie er in den Nachbarländern mit viel höheren Inzidenzen längst praktiziert wird. Doch hierzulande übt man sich ein bisschen in später DDR.
Während in Deutschland ernsthaft darüber gestritten wird, welche Rechte Geimpfte, Genesene oder Getestete in ein paar Wochen vielleicht beanspruchen dürfen, wird anderswo einfach für alle geöffnet. Einen anderen Weg gibt es auch nicht mehr. Die Glaubwürdigkeit der Behörden ist dahin und die der Wissenschaftler, die über virale Raketenantriebe fabulierten ebenso. Dennoch versucht die Bundesregierung erst einmal die Einschränkungen für Geimpfte und Genesene aufzuheben. Das muss sie auch tun, da es sonst die Gerichte erledigen. Der Weg ist dennoch falsch, da er ja bedeutet, den anderen diese Rechte weiter vorzuenthalten. Viel Spaß dabei, das sind ja auch Wähler. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil hat die Sprengkraft eines solchen Vorgehens wohl erkannt und sich daher letzte Woche dagegen ausgesprochen.
Doch auch er kommt um das einleuchtende juristische Argument nicht herum. Geimpfte stellen nach offizieller Lesart der Pandemie keine Gefahr mehr dar. Sie in ihren Rechten zu beschränken, ist daher weder angemessen, noch verhältnismäßig. Das es nun immer noch nicht genug Impfstoff für alle anderen gibt, ist kein Grund, der gegen diese Auffassung spräche, sondern vor allem eines: politisches Versagen. Die Impfstoff-Knappheit hätte vermieden werden können, stellt aber auch so kein großes Problem mehr dar, da die Risikogruppen davon nicht mehr betroffen sind. Auch das gehört zur Lesart der Pandemie. Der Schutz der Alten wird langsam abgeschlossen. Sie sind weitgehend imunisiert, nun so zu tun, als bestünde auch für alle anderen, mit Ausnahme der Vorerkrankten, eine außerordentliche Gefahr, ist unredlich. So hart es nun einmal klingt, aber dafür sterben aus diesen Altersgruppen einfach viel zu wenige.
Doch auch diese Diskussion hat sich erledigt, sobald die Priorisierung fällt, weil endlich genug Impfstoff für alle da ist und jeder, der möchte, sich auch impfen lassen kann. Spätestens dann gibt es keine Begründung mehr für die Einschränkung der Grundrechte. Es wird aber auch so nicht gelingen, das Maßnahmenregime für die ungeimpften Gesunden aufrecht zu erhalten und zwar genau aus dem Grund, den Stephan Weil zu Beginn der vergangenen Woche mit Sorge erfüllte, als die Runde der Ministerpräsidenten zum Thema Impfen wieder tagte. Die gesellschaftliche Spaltung. Sie wird rasch eintreten, wenn die Rechte für die Geimpften entweder per Richterspruch oder per Bundesverordnung zurückkommen werden.
Die niedersächsische Regierung passt sich dieser unausweichlichen Lage offenbar an und plant daher nun für den 10. Mai mit weitgehenden Lockerungen für alle. Die alberne Terminbuchung soll für den Einzelhandel fallen und die Testpflicht, für die man vielerorts auch wieder Termine braucht, vermutlich ebenso. Plötzlich spielen bei den Überlegungen die Erfahrungen aus Supermärkten, Drogerien und Co. eine Rolle, wo es das alles seit einem Jahr Pandemie nie gegeben hat. Ein Einfluss auf das Infektionsgeschehen ist nicht nachgewiesen. Und weil man das auch weiterhin nicht wissen will, gibt es auch keinen Grund mehr für pauschale Schließungen. Darauf haben ebenfalls die Gerichte bereits hingewiesen. Die bloße Behauptung oder Vermutung des Verordnungsgebers reicht nicht mehr aus, wenn durch eine bessere Erforschung von Infektionsumfeldern die erforderliche Klarheit geschaffen werden könnte.
Im Übrigen verläuft die gesellschaftliche Spaltung auch nicht zwischen Geimpften/Genesenen und Ungeimpften/Gesunden, sondern zwischen Arm und Reich. Das hat man lange auch nicht wissen wollen in dem Land, in dem die Kanzlerin mit freundlicher Unterstützung der SPD gut und gerne lebt. Die Erkrankung trifft Menschen aus einkommensschwachen Bevölkerungsschichten deutlich häufiger. Der Grund sind beengte Wohnverhältnisse und prekäre Jobs. An diesen Zuständen ändern dann auch noch viel härtere Lockdowns nichts. Die Stilllegung des öffentlichen Lebens, besonders perfide sichtbar beim Sperren von Spielplätzen, trägt nichts dazu bei, die Benachteiligten und Armen aus ihren prekären Verhältnissen zu befreien. Darüber sollte am 1. Mai gerade die woke Linke einmal nachdenken, die bei Lanz nur noch bedeutungsschwanger vor sich hin philosophiert und sich dann darüber wundert, dass sie in den Umfragen so schlecht dasteht.
Bildnachweis: Screenshot, Sendung Markus Lanz im ZDF, 29. April 2021
MAI
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.