Jetzt auch Börse nach acht

Geschrieben von: am 22. Apr 2021 um 9:19

Wir haben die Börse vor acht und jetzt auch eine Börse nach acht. Vor acht erklären Journalisten, warum die Kurse an den Aktienmärkten steigen oder fallen. Die Gründe sind häufig die gleichen, der Informationsgehalt daher knapp über dem Niveau der Astrologie. Nach acht erklären andere Journalisten, warum die Infektionszahlen steigen oder fallen. Die Gründe sind häufig ebenfalls die gleichen. Unterm Strich wird eine Menge Statistikdeuterei betrieben, die aus einer schlechten Datenbasis keine bessere macht, aber die allgemeine Ahnungslosigkeit vielleicht etwas hübscher aussehen lässt.

Es ist häufig die erste Tickermeldung des Tages. Die aktuellen Coronazahlen, entnommen aus dem Dashboard des RKI. Dabei häufen sich Skurrilitäten, die im gepflegten Ritual nicht weiter aufzufallen scheinen.

„Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem Robert Koch-Institut (RKI) binnen einem Tag 24.884 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Das geht aus Zahlen des RKI von Mittwochmorgen hervor, die den Stand des RKI-Dashboards von 5.10 Uhr wiedergeben. In der Zahl der gemeldeten Neuinfektionen könnten Nachmeldungen aus Nordrhein-Westfalen vom Vortag enthalten sein. Eine größere Zahl von Meldungen der NRW-Gesundheitsämter war zuvor aufgrund technischer Schwierigkeiten am Montagabend und Dienstag nicht vollständig übermittelt worden.“

Quelle: Spiegel Online

Auch Wochen nach den Osterfeiertagen zeigen sich die Probleme mit dem Meldeverfahren. Anders als es die Behörden glauben machen wollen, verbessert sich die Datengrundlage mit zunehmenden Abstand gerade nicht. Dennoch ist auf dieser zweifelhaften Basis soeben eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen worden, mit festgeschriebenen Inzidenzwerten, die noch fragwürdiger sind, aber bestimmte Automatismen, wie Ausgangssperren oder Schulschließungen, nach sich ziehen. Die Orientierung am Inzidenzwert ist daher abenteuerlich und unverhältnismäßig.

An Himmelfahrt und Pfingsten wird sich das Spiel vermutlich wiederholen. Erneut wird es ein Bedauern darüber geben, dass die Zahlen wegen der Feiertage oder des verlängerten Wochenendes nicht oder nur begrenzt aussagekräftig seien. Was ist dann aber mit der Bundesnotbremse? Tritt sie wegen fehlender Geschäftsgrundlage automatisch außer Kraft? Nein. Man nimmt einfach an, dass alles noch viel schlimmer ist und viele Kinder ihre Eltern verlören, wenn es zu einer Rücknahme der Einschränkungen komme. Die Auseinandersetzung hat jede sachliche Ebene längst verlassen. Das zeigen vor allem diejenigen, die als „Experten“ bislang auftraten und eine Schar von Fans um sich versammelt haben.

Das Virus werde seinen Schrecken verlieren, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der gescheiterten Osterruhe gesagt, was auch stimmt, da ihr Krisenmanagement noch viel schrecklicher ist. Eine Schneise der Verwüstung zeichnet sich immer sichtbarer ab. Das ist in der Gesellschaft zu beobachten, aber auch im politischen Raum. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat sich erledigt. Die Länder scheinen darüber sogar erleichtert, da der Bund nun selbst etwas regelt, das sie aus der Ferne kritisieren können. Bundesregierung und die Mehrheit im Parlament setzen sich wiederum in einer skandalösen Ignoranz über verfassungsrechtliche Bedenken hinweg, so als ob sie es darauf anlegten, in Karlsruhe zu scheitern.

Geht es daher am Ende nur um eine weitere Verschiebung von Verantwortung zwischen den Gewalten? Was bereits in den Ländern zu beobachten war, setzt sich nun auf nationaler Ebene fort. Das Bundesverfassungsgericht sei auch der richtige Ort zur Klärung dieser Frage, meint etwa der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. Er hatte sich schon häufiger eine blutige Nase vor dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg geholt. Nun ist er nicht mehr zuständig, nehme das Schicksal daher seinen Lauf. Haben die Verfassungsbeschwerden Erfolg, kann sich die hilflose Politik darauf berufen und gegenüber einer immer radikaler auftretenden NoCovid-Fraktion, die man sich selbst herangezogen hat, erklären, dass eine Grenze des politisch Machbaren erreicht sei.

Das Virus wird tatsächlich seinen Schrecken verlieren, auch in der politisch immer noch ziemlich verspäteten Nation, in der die Ablehnung von Aufklärung mal wieder als Bekenntnis zur Wissenschaft gefeiert wird. Wer die Position der medial vorherrschenden Lehre, man kann es auch Dogma nennen, kritisiert, wird dann eben auch kurzerhand zu einem Wissenschaftsleugner erklärt. Deutschland ist geistig so rückständig wie nie. So ist es dann auch möglich, Schulen über Monate hinweg geschlossen zu halten und Kindern dabei zu erklären, sie müssten für das Dogma nun einmal Verständnis haben. Derweil geht das ohnmächtige Stochern im Nebel weiter, auch Dank der Börsen vor und nach acht. Sie verleihen dem statistischen Mumpitz, aufbereitet bis ins kleinste Detail, auch noch seriösen Glanz.


Bildnachweis: Screenshot Börse vor acht, ARD

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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