Natürlich kann man über harte Lockdowns und NoCovid-Theorien diskutieren, sie umzusetzen, bleibt aber das Grundproblem. Gern wird auf den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 verwiesen, den man nur wiederholen müsse. Da habe alles wunderbar geklappt. Die Bevölkerung war vorsichtig, brav und damit solidarisch. Das ist sie nun offenkundig nicht mehr. Auch die Gerichte treten zunehmend in Erscheinung und verwerfen viele Regelungen oder weisen darauf hin, dass die Regierung sich nicht mehr nur auf Unwissenheit beim Infektionsgeschehen berufen könne. Wer häufig dazu aufruft, der Wissenschaft zu folgen, muss eben auch darlegen können, worin die wissenschaftliche Erkenntnis besteht. Da stellt sich die Frage, wie man über diesen Zustand eigentlich hinwegkommen will.
Die einen warnen permanent und fordern immer neue Regeln, die anderen schütteln nur noch genervt mit dem Kopf. Manchmal nehmen Forderungen auch radikalere Züge an. Das beginnt mit den Wasserwerfern, die protestierende Menschen unbedingt wegkärchern (sic!) sollten, zum Schutz der Gesundheit und zur Rettung von Leben natürlich. Die Benässten fordern wiederum Tribunale, vor denen sich Politiker und Wissenschaftler verantworten müssten. Eine sonst eher gemäßigt auftretende Gruppe meint mittlerweile auch, es mit Gesetzen und Grundrechten nicht so genau zu nehmen. Sie befürworten, den Rechtsstaat für eine Zeit zu suspendieren, da es immer noch zu viele Menschen gibt, die Klage gegen Verordnungsparagrafen vor Verwaltungsgerichten erheben und dann mitunter Recht bekommen. Wenn dies weiterhin möglich bliebe, haben ultrastrenge Vorschriften für einen unbedingt notwendigen, aber garantiert kurzen allerletzten Lockdown ja kaum einen Sinn.
Diese radikalen Forderungen tauchen vor allem im linken Lager vermehrt auf und weisen auf eine seltsame Lust am Autoritären hin. Doch hierbei geht es eher nicht um die Verwirklichung einer bislang verborgen gebliebenen Herrschaftsfanatasie, sondern darum, die zu Tage getretene Schwäche einer strauchelnden Regierung mit Dauer-Abo aufs Kanzleramt auszunutzen, um mit ihr nach etlichen Jahren der Demütigung endlich abzurechnen. Aus der bitteren Erfahrung heraus, dass nach Wahlen weder ein Wechsel möglich noch gewollt war, wittert die politische Linke durch die Pandemiedynamik nun Morgenluft. Sie (h)ampelt derzeit aufgeregt im politischen Raum herum und vergisst dabei, wie so oft, ihren eigentlichen Auftrag, nämlich die Befreiung der Benachteiligten und Armen aus ihren prekären Verhältnissen. Der Dramaturg Bernd Stegemann schrieb kürzlich in der Welt:
Die woke Linke macht hingegen die persönliche Sensibilität zum Maßstab. Sie schaut mit einem moralischen Blick auf die Verhältnisse, und ihre wichtigste Waffe ist die Empörung. Die soziale Linke wollte die Menschen befreien, indem sie die beengten Verhältnisse aufsprengt. Die woke Linke will die Menschen erziehen und macht ihr eigenes Leben dabei zum Vorbild.
Die woke Linke, um im Begriff zu bleiben, scheint zu übersehen, dass Lockdowns und NoCovid-Strategien vor allem die Menschen aus der Arbeiterklasse hart treffen und gerade sie der Krankheit in höherem Maße schutzlos ausliefern. Das Schicksal dieser Klasse ist den bürgerlich-linken Moralisten aber herzlich egal. Sie sprechen lieber über die Beschäftigten in den Großraumbüros, als über die Menschen in den Lieferfahrzeugen, die mittlerweile in ihre Flaschen urinieren, um die vielen Pakete noch rechtzeitig ausliefern zu können, deren Inhalte das Leben der woken Linken im Lockdown so erträglich machen. Dass die Corona-Krise die Ungleichheit zwischen hohen und niedrigen Einkommen weiter verschärft und auch die Mitte zurückzufallen droht, interessiert kaum noch jemanden.
Große Teile der politischen Linken wollen den harten Lockdown jetzt, um bei sinkenden Fallzahlen, die vermutlich so oder so kommen werden, sagen zu können, an den rigorosen Maßnahmen, die sie gefordert und einer lavierenden Regierung abgetrotzt haben, hätte es gelegen. Die rücksichtslose Entschlossenheit soll dabei vor allem die enttäuschten Wähler der Mittelschicht beeindrucken, die sich von der schwarzen Staatspartei zunehmend verschaukelt fühlen. Umfragen und Landtagswahlen zeigen es bereits an, Mehrheiten jenseits der Union sind möglich. Ein Rechtsanspruch auf das Kanzleramt mag es nicht geben, eine Art Dauer-Abo aber schon. Das läuft nun mit Merkel im Herbst ganz sicher aus und die linken Moralisten wollen mit einer Art konservativen Verlässlichkeit bei einer zunehmend orientierungslos wirkenden Wählerklientel („wir werden Merkel noch nachtrauern“) um Stimmen werben.
Das geht wiederum am besten durch klare Abgrenzung. Die Zeit der Debatten ist im linken Lager vorbei. Diese haben dort ohnehin nie zu etwas Konstruktivem geführt. So haben es die woken Linken entschieden. Für sie ist jetzt die Haltung maßgeblich. „Wer jedoch meint, dass alleine die ‚richtige Haltung‘ über ‚richtig oder falsch‘ entscheidet, versucht in Wahrheit den Streit mit rationalen Argumenten zu verhindern“, sagt Fabio De Masi, der im Februar eine bemerkenswerte Begründung für seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den Deutschen Bundestag schrieb. Eine solche Debattenkultur, so De Masi, habe nichts mehr mit Aufklärung zu tun, sondern sei Ausdruck eines elitären Wahrheitsanspruchs, wie ihn die Kirche im Mittelalter bediente. Das führe zu gesellschaftlichen Spaltungen, von denen wiederum nur rechte Demagogen profitieren. Es sieht so aus, als nehme die woke Linke diese Spaltungen gern in Kauf, weil die Aussicht auf das Mitregieren noch nie so greifbar war.
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.