Die Notbremse hat viele Bedeutungen. Ein Zug lässt sich damit stoppen. Das Betätigen ohne triftigen Grund ist allerdings untersagt. Im Fußball ist die Notbremse eine grobe Unsportlichkeit und endet häufig mit einem Platzverweis. Politiker ziehen ebenfalls die Notbremse, allerdings äußerst selten und nur dann, wenn sich ein grobes Fehlverhalten kaum noch leugnen lässt. Seit heute gibt es noch eine weitere Spielart der „Notbremse“ und zwar bei der Pandemiebekämpfung. Wer über einer Inzidenz von 100 liegt, fällt auf den Status quo ante zurück und muss das öffentliche Leben wieder oder weiter aussetzen. Eine Notwendigkeit dafür gibt es aber nicht.
Reine Meldeinzidenzen immer noch als Maßstab zu nehmen, ist in der jetzigen Lage schlicht unangebracht. Da das Impfen trotz des allgemeinen Schneckentempos zumindest in der Risikogruppe der Hochbetagten weiter vorankommt und die tatsächlichen Erkrankungen und schweren Verläufe zurückzugehen scheinen, müssen auch andere Parameter, wie die Auslastung des Gesundheitssystem und im speziellen der Krankenhäuser samt Intensivstationen wieder in den Mittelpunkt rücken. Die Fallzahlen selbst werden ohnehin zunehmen, zum einen, weil wieder mehr erlaubt ist oder geltende Regeln einfach unterlaufen werden und zum anderen, weil eine Umstellung der Teststrategie erfolgt.
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Mehr anlasslose, aber meldepflichtige Schnelltests decken dann auch weitere Fälle auf. Insofern wirkt die Konstruktion des neuen Regelwerks mit einer angeblichen Notbremse bei einem willkürlich festgelegten Inzidenzwert seltsam inkohärent. Die Fallzahlen sind aber auch deshalb problematisch, weil sie lokal ganz unterschiedlich interpretiert werden. Die Region Hannover ist heute beispielsweise als sogenannte „Hochinzidenzkommune“ eingestuft worden. Das war lange unklar, weil nicht nur einer, sondern gleich drei Inzidenzwerte erhoben werden, wie der Regionspräsident Hauke Jagau in einer Videobotschaft erklärt.
Das RKI weist für die Region Hannover demnach den Wert 99,2 aus, auch viele Einzelhändler hatten sich darauf berufen und die nächste Lockerungsstufe einfach von sich aus gezündet. Das Landesgesundheitsamt hat allerdings 103,8 und die Region nach eigenen Berechnungen die Zahl 102,2 ermittelt. Die Angaben des Landesgesundheitsamtes sind im Sinne der abermals aktualisierten Landesverordnung nun bindend, wie Jagau erklärt. Er hält das Regelwerk für unglücklich. Untauglich, wäre die bessere Formulierung. Auf über 30 Seiten ist die Verordnung einmal mehr angeschwollen. Sie wartet zudem mit unverständlichem Behördendeutsch auf. Zum Beispiel:
Eine weitere Person ist zulässig, soweit diese Dritte im Sinne des § 1684 Abs. 4 Satz 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist.
Aus diesen Formulierungen spricht ja keineswegs gelebte Bürgernähe, sondern vielmehr die Angst vor einer weiteren Klatsche des Oberverwaltungsgerichts. Der Verordnungsfetischismus wird immer absurder. Er basiert zudem auf fragwürdigen Zahlen. Jede Behörde bietet eine eigene Berechnung des mittlerweile umstrittenen Inzidenzwertes an, der aber wiederum für die Rechtsfolgen aus der Coronaverordnung maßgeblich ist. Indem der Regionspräsident bewusst auf diese Widersprüchlichkeit hinweist, bringt er die Landesregierung in Erklärungsnot. Denn wenn es nicht einmal gelingt, den heiligen Inzidenzwert zweifelsfrei zu ermitteln, wie haltbar ist da noch das gesamte Verordnungskonstrukt?
Es ist daher Zeit für eine echte Notbremse im Hinblick auf die reine Inzidenzgläubigkeit. Benötigt wird vielmehr eine Größe, die nicht nur das dumpfe Aufsummieren von positiven Testergebnissen zum Maßstab nimmt, sondern weitere Faktoren, wie die Ausbreitungs- und Erkrankungszahlen in den besonders gefährdeten Altersgruppen, deren Impfstatus sowie die Auslastung des Gesundheitssystems miteinbezieht. Auf dieser sehr viel stabileren Grundlage können dann auch verschiedene Pandemiestufen für jeden nachvollziehbar begründet werden. Die jetzt stark schwankenden Meldeinzidenzen taugen im Grunde nichts, auch weil sie im Detail nicht erklärbar sind, wie die Behörden auf Nachfragen immer wieder bestätigen. Sie als alleinige Zielvorgaben zu verwenden, ist daher unseriös. Der Verlust an Glaubwürdigkeit und Rückhalt ist somit hausgemacht.
Bildnachweis: Peter van de Ven auf Pixabay
MRZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.