Bislang haben die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten mit Blick auf die Infektionszahlen immer gewarnt und die Zügel lieber noch etwas strammer angezogen. Eine Öffnungsperspektive galt zuletzt nur für die Friseure auf Grundlage der „Würde“. Alle anderen Branchen hätten sich weiter zu gedulden, bis der Inzidenzwert bei 50, nein bei 35, nein stabil bei 35, nein stabil für zwei Wochen unter 35, nein bei 10 liege. Inzwischen ist klar, der Lockdown ist ein Auslaufmodell, egal was die Inzidenzen sagen.
Die Infektionszahlen und davon abgeleitet, die Inzidenzen steigen wieder und bewegen sich mal rauf und dann wieder runter. Warum, das weiß keiner so genau. Erklärungsversuche kommen über den Stand von Vermutungen nicht hinaus. Selbst die Mutante taugt nicht mehr als Erklärung, wie beispielsweise ein Bericht aus der HAZ über die Lage in der Region Hannover zeigt.
Dass die Region Hannover im Vergleich mit anderen Landkreisen in Niedersachsen verhältnismäßig schlecht dasteht, könne man sich nicht erklären, so die Regionssprecherin. Läge die Region unter dem Landesschnitt, hätte man dies aber ebenfalls nicht begründen können.
Man kann sich die Zahlen nicht erklären. Das ist ehrlich. Es wird daher Zeit, die Inzidenzwerte als das zu bezeichnen, was sie sind. Unbrauchbar. Das waren sie schon immer, weil erstens die Bezugsgröße (Anzahl der Tests) ständig variiert und zweitens überhaupt nicht zwischen den Altersklassen und Infizierten mit oder ohne Symptome unterschieden wird. Kurzum: Man weiß einfach immer noch nichts über das Infektionsgeschehen. Zum Glück äußern sich endlich auch die Amtsärzte und fordern eine Abkehr von der Orientierung an den Inzidenzwerten. Das mit den amtlichen Zahlen etwas nicht stimmt, hätte man auch schon zum Jahreswechsel erkennen können, als die täglichen Meldedaten aus Gesundheitsbehörden und RKI mit dem Hinweis der mangelhaften Aussagekraft gekennzeichnet wurden.
Trotzdem wird es demnächst weitere Öffnungsschritte geben, vielleicht weil Wahlen anstehen oder die Regierenden bemerkt haben, dass die Panikstrategie, die sie offenbar ganz bewusst erzeugt haben, doch nicht so viel Rückhalt in der Bevölkerung genießt, wie Umfragen vermuten lassen. Folglich wird es in den kommenden Tagen allerhand sprachliche Verrenkungen geben, um bei vielleicht weiter steigenden Fallzahlen dennoch eine Kehrtwende als richtigen Weg zu verkaufen. Das hat bereits am Freitag begonnen, als Bund, Länder und bayerische Kommunen per Videoschalte die allgemeine Lage besprachen. Der Ton war freundlich, aber die Erwartungshaltung der Landräte auch groß. Der Druck von der Basis hat zugenommen. Am Ende stellte Söder dann eine „intelligente Öffnungsmatrix“ statt starrer Stufenpläne in Aussicht. Ein Seitenhieb auf die bereits vorgepreschten Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Thüringen.
Bescherungen
Am heutigen Montag legte nun Kanzlerin Merkel mit einer Paketlösung nach. Eine Bescherung in drei Schritten soll es geben. Die Bürger sollen sich ja auch auf etwas freuen können. Es gebe schließlich eine Sehnsucht nach Öffnungen, wie Regierungssprecher Steffen Seibert in der Bundespressekonferenz mitteilte. Gleichzeitig dämpfte er aber. „Die gute Entwicklung, die uns über längere Zeit täglich sinkende Infektionszahlen beschert hat, ist im Moment vorbei. Die Zahlen steigen wieder.“ Und Kanzleramtsminister Helge Braun wird mit den Worten zitiert, dass die Mutationen des Coronavirus leider gerade die gute Entwicklung in Deutschland zerstörten. Doch eine Reaktion in Form von Verschärfungen, wie seit nunmehr dreieinhalb Monaten geübte Praxis, bleibt aus. Stattdessen ist davon die Rede, dass man schauen müsse, wie sich beispielsweise die teilweise Öffnung der Schulen auf das Infektionsgeschehen auswirke. Dabei läuft der Unterricht an den Grundschulen in Niedersachsen (Wechselmodell) bereits seit fünf Wochen. Erkenntnisse: offenbar keine.
Da staunt nicht nur der Alarmist oder ist alles nur eine clevere Hinhaltetaktik und am Ende öffnet sich nichts? Jedenfalls ist ein bisschen Frühling in den Winter eingekehrt. Zum Valentinstag durften bereits Blumenläden hie und da öffnen. Der Regierungssprecher deutete das als eine erste Öffnungswelle. Eine interessante Wortwahl, die möglicherweise nur eine zwangsläufige Entwicklung vorwegnimmt, denn so nach und nach fallen die Tabus. So kündigte ausgerechnet der Hardliner Markus Söder („Wenn das Virus gefährlicher wird, muss die Maske besser werden“) für nächste Woche weitere Öffnungen an. Neben Friseuren sollen auch Fußpflegepraxen, Gärtnereien, Gartenmärkte und Blumenläden aufsperren dürfen. Der bayerische Ministerpräsident sorgt sich um die verderblichen Blümelein und will damit wohl den Vorwurf entkräften, ihm mangele es an Empathie. Nur Bäume zu umarmen, reicht halt nicht. Er sei auch gegen neue Grenzwerte, weil das die Menschen nur verwirre. Er hat damit vermutlich seine fallenden Beliebtheitswerte gemeint.
Bis zur Besprechung der Kanzlerkandidatur mit Armin Laschet an Pfingsten müssen Figur und Performance wieder stimmen. Es ist also etwas ins Rollen geraten. Vielleicht gibt es nun einen Dominoeffekt, denn andere Branchen wollen nicht übergangen werden und dürften auch gute Karten haben, wenn ein Ministerpräsident mal mit Würde und mal mit verderblichen Waren argumentiert, aber eigentlich nur seine Umfragewerte und das persönliche Fortkommen im Sinn hat. Söder hat nur ein Ziel und zwar im Herbst die lame duck im Kanzleramt zu beerben. Die ist noch schnell ihrem Bundesankündigungsminister für Gesundheit in die Parade gefahren. Der hatte Schnelltests für alle zum 1. März in Aussicht gestellt. Nun hat die Kanzlerin dessen Pläne erst einmal gestoppt. Zu viele Fragen seien noch offen. Oder anders ausgedrückt: Der Minister liefert nur unzureichend ab. Eine solche Geste des vollsten Vertrauens kann sich der ehrgeizige Jens Spahn eigentlich nicht gefallen lassen. Aber vermutlich deutet sich da bloß die nächste sprachliche Verrenkung an.
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FEB
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.