Auf der Suche nach den Unbekannten

Geschrieben von: am 18. Jan 2021 um 19:40

Heute ist Stichtag. Am 18. Januar sollte das Robert-Koch-Institut (RKI) endlich einen Überblick haben, wie sich die Feiertage auf das Infektionsgeschehen ausgewirkt haben. Doch nach wie vor warnt die Behörde wie auch das zuständige Ministerium und die Medien vor einer falschen Interpretation der Daten. Es gebe immer noch Unsicherheiten, die allerdings dann nicht mehr gelten, so bald es neue Rekordwerte zu vermelden gibt. Plötzlich ist es wieder das Wochenende, an dem ja traditionell weniger getestet, in den Laboren weniger analysiert und schließlich auch weniger gemeldet werde. Aber das soll sich jetzt ändern, denn Gesundheitsminister Jens Spahn hat die Virus-Mutationen offiziell zur Fahndung ausgeschrieben.

Da kann die Bundesregierung dem „britischen“, dem „südafrikanischen“, dem „brasilianischen“ oder einem sonst wie mutierten Virus ja dankbar sein, dass es doch noch einen Grund liefert, die Bund-Länder-Runde vorzeitig tagen zu lassen, obwohl die aktuellen Infektionszahlen zu weiterer Panik und Aktionismus zunächst einmal keinen Anlass geben. Doch jetzt, wo die Zahlen mal wieder nur vor sich hin dümpeln und sich selbst die Lage in den Krankenhäusern etwas entspannter darstellt, als noch vor ein paar Wochen, herrscht wieder große Ratlosigkeit. Plötzlich fällt auf, dass man ja gar keine brauchbaren Daten hat, auf deren Grundlage man eine gesicherte Aussage treffen kann. An genaueren Erkenntnissen dazu ist man aber gleichwohl nicht interessiert. Das Kanzleramt bittet sogar Teile der Wissenschaft darum, auf unangenehme Fragen und Thesen zu verzichten. Stattdessen dominiert weiterhin die allgemeine Besorgnis, gekleidet in die bereits bekannten Appelle und ergänzt um eine Fülle von Andeutungen, die lediglich im Konjunktiv gehalten sind.

Mutantenstadl im Kanzleramt

Das gilt auch für die Grusel-Mutanten, die vor ihrer vollständigen Entschlüsselung gerade noch als Paniktreiber zu taugen scheinen, von denen aber niemand so genau sagen kann, wie bedrohlich sie tatsächlich sind. Außer Karl Lauterbach vielleicht, der vor den Bund-Länder-Beratungen wieder als Chefeinpeitscher Tag und Nacht in den sozialen Netzwerken trollt. Dass die Meldezahlen in Großbritannien und Irland gerade wieder sinken und zwar recht deutlich, registriert die Bundesregierung vermutlich erst nach den Beschlüssen vom Dienstag. Vorher wird noch angestrengt darüber nachgedacht, ob eine allgemeine nächtliche Ausgangssperre zu der boulevardesken Vorstellung eines „Mega-Lockdowns“ passt. Dient das nun der Sicherheit? Gehen etwa abends viele Menschen zur geschlossenen Kneipe um die Ecke, um sich dort an eine Runde Bier in Gesellschaft zu erinnern? Nein, es ist eine weitere Inszenierung für die Öffentlichkeit. Denn über so einen sinnlosen Quatsch hätte man ja auch wie geplant am 25. Januar reden oder bei einer spontanen Videokonferenz auf Arbeitsebene feststellen können, dass die Vorschläge im Papierkorb besser aufgehoben wären.

Stattdessen wird wieder ein großer Zirkus, um nicht zu sagen Mutantenstadl veranstaltet, bei dem sich unter anderem der bayerische Zampano einmal mehr als künftige Bundesführungskraft aufspielen kann. Der hat zwar ein Herz für Welpen, aber keines für Mitmenschen, die sich die teuren FFP2-Wegwerfmasken kaum leisten können. Diese zertifizierten Medizinprodukte, übrigens für den privaten Gebrauch laut RKI nicht empfohlen, seien jetzt aber unbedingt nötig, um sich vor Mutationen eines Virus zu schützen, das mutmaßlich ansteckender ist, als die bisherige Version. Dazu sagt der erfahrene Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr.

Dennoch: Der Politclown aus Bayern hält vor der Bund-Länder-Runde dagegen. An ihm mögen sich die anderen bitte ein Beispiel nehmen und orientieren. Das ist wieder eine Provokation und natürlich abgesprochen mit der Kanzlerin, die noch irgendetwas Schärferes gefordert hatte, aber darauf natürlich verzichten würde, wenn alle dem selbsternannten Zirkusdirektor die Gefolgschaft zusichern. Befremdlich sind auch Äußerungen wie die des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus, der sagte, dass man jetzt nur für kurze Zeit einen harten Lockdown brauche, statt eine Endlosschleife bis in den Sommer. Aber Moment: Hatte die Kanzlerin Ende Oktober nicht von einer letzten nationalen Kraftanstrengung für einen Monat bereits gesprochen? Nun ist aber schon Januar. Wie glaubwürdig sind eigentlich noch diese Befristungen, die immer wieder durch neue Zeiträume und Superlative ersetzt werden müssen?

Wissenschaft ist immer einseitig

Da ist doch aber die Wissenschaft, hört man zur Begründung. Dabei gibt es nicht die Wissenschaft, die scheinbar zu alternativlosen Maßnahmen zwingt. So etwas behaupten immer nur Politiker, die eben selbst keine Verantwortung übernehmen wollen. Dazu zählt dann auch die Kanzlerin, die wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Pandemiebekämpfung mal eben mit der Schwerkraft gleichsetzt und so tut, als könne sie gar nicht anders um ihre eigene Achse rotieren. Diese proklamierte Alternativlosigkeit ist nur überhaupt nicht neu, aber immer noch falsch und feige. Die Aufgabe von Wissenschaftlern ist es, eine einseitige spezialisierte Sicht auf die Dinge zu entwickeln. Die Aufgabe von Politik ist es wiederum, sich diese Positionen in ihrer Breite vor Augen zu führen und dann abzuwägen, welche Entscheidungen für die gesamte Gesellschaft vertretbar sind und welche nicht. Dazu hat die Regierung aber augenscheinlich wenig Lust, da es nun einmal populärer ist, sich hinter einer einzelnen wissenschaftlichen Meinung zu verschanzen.

In Wirklichkeit ist die Pandemiebekämpfung daher mehr von Umfragewerten geprägt, als von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Um so wichtiger ist es daher, dass das Parlament wieder aktiver wird und zumindest bei der Auswahl der Experten ein Wörtchen mitreden darf. Doch was ist eigentlich los mit der Opposition? Bei der FDP blitzt da immerhin noch etwas auf. Sie fordert beispielsweise eine Sondersitzung des Bundestages. Dem schließt sich auch die Linke an, aber nur halbherzig, da sie der Regierung folgend, Lockdowns im Prinzip genauso klasse findet. Diese müssten halt nur sozial gerechter ausgestaltet sein. Diese abstrakte Haltung geht allerdings an den ziemlich konkreten Existenzsorgen, die viele Betriebe und Beschäftigte akut plagen, meilenweit vorbei. Die Grünen dagegen haben sich aus der Debatte schon ganz verabschiedet. Sie stützen den Kurs der Regierung beinahe vorbehaltlos. Da bietet sogar die SPD manchmal mehr Opposition, obwohl sie noch Teil der Großen Koalition ist.

Doch auch die Sozialdemokraten kommen an ihrer selbstverschuldeten Bedeutungslosigkeit nicht mehr vorbei. Der Fragenkatalog des Finanzministers an den Gesundheitsminister zu dessen Impfstrategie interessiert wohl kaum noch jemanden. Und nach dem Bundesparteitag der CDU am Wochenende und einer Debatte um deren innerer Verfasstheit sowie Überlegungen zu schwarz-grünen Zukunftsprojekten bleibt nicht mehr viel Raum für die SPD in der Öffentlichkeit übrig. Vielleicht hat sich deshalb der Außenminister, der für abseitige Äußerungen immer zu haben ist, dazu entschlossen, nun Lockerungen für Geimpfte zu fordern. Wie das der zunehmenden Irrelevanz der Sozialdemokraten nun aber entgegenwirken soll, bleibt ein Rätsel, um nicht zu sagen, eine große Unbekannte.


Bildnachweis: Screenshot tagesschau.de, 18. Januar 2021

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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