Der Bund und die Länder wollen Maßnahmen verlängern, weil diese bislang nicht wirken. Das ist die seltsame Regierungslogik. Die nationale Kraftanstrengung, von der die Bundeskanzlerin Ende Oktober sprach, wird damit immer mehr zu einer Dauerübung und Belastungsprobe selbst für die Menschen, die das Vorgehen und die Beschlüsse bislang unterstützt und mitgetragen haben. Auf der anderen Seite ist von einer nationalen Kraftanstrengung der Regierenden wenig zu sehen. Zwischen dem 13. Dezember, Tag der letzten Ministerpräsidentenkonferenz, und heute ist nichts passiert, außer schöne Fotos zum Impfstart, der diese Woche schon wieder zum Erliegen gekommen ist. Bei den Überbrückungshilfen für Betriebe wird mittlerweile auf den März vertröstet. Dann soll es mit den Auszahlungen für die Betroffenen endlich klappen. Beim Ankündigen sind Bund und Länder groß, bei der Einlösung der Versprechen folgt hingegen eine Blamage nach der anderen.
Auffällig ist, dass die gesunkenen offiziellen Infektionszahlen nicht in positiver Weise gewürdigt werden. Sie seien nicht belastbar, da es über die Feiertage zu weniger Testungen und Meldungen gekommen sei, heißt es von Seiten der Regierung wie auch der Medien, die das seit Tagen sehr deutlich betonen. Die Daten böten somit kein verlässliches Bild und man müsse weiter abwarten. Diese Haltung ist entlarvend, weil suggeriert wird, dass mehr Tests und Meldungen wie vor Weihnachten ein verlässlicheres Bild bedeuten würden. Das ist grundfalsch. Verlässlich können ja nur Daten sein, die repräsentativ erhoben worden sind. Doch die dafür erforderlichen Kohortenstudien werden immer noch nicht gemacht. Stattdessen werden weiterhin nur stumpfsinnig Tests und Meldungen gezählt. Neuerdings auch mit Mutanten aus Großbritannien.
Das wirft grundsätzlich die Frage auf, ob die täglichen Fallzahlen überhaupt je belastbar gewesen sein können. Denn auch wenn wieder mehr getestet und gemeldet würde, bliebe das tatsächliche Infektionsgeschehen schlichtweg unbekannt. Darauf hat der Infektiologe Matthias Schrappe von der Uni Köln in Thesenpapieren und Interviews immer wieder hingewiesen. Bestimmte Inzidenzwerte als Zielvorgaben festzuschreiben, sei daher unrealistisch, da das zentrale Gebot der Erreichbarkeit verletzt würde. Leider halten auch die wissenschaftlichen Berater der Regierung an diesen unerreichbaren Inzidenzwerten fest. So entstehe der Eindruck, dass es nur um eine Begründung bereits beschlossener Maßnahmen geht.
Deutlich wird das gerade auch darin, dass den sinkenden oder stagnierenden Werten ganz selbstverständlich misstraut wird, wohingegen steigende Zahlen das Regierungsnarrativ stets klar bestätigen. Letztere bilden final auch die Begründung, an den scharfen Einschnitten leider festhalten zu müssen. Umgekehrt gilt das aber nicht. Bei Lockerungen werden ungleich höhere Maßstäbe angelegt, was einerseits verständlich ist, da die Folgen ja tödlich sein können. Andererseits zeigt der Lockdown, ob „leicht“ oder „hart“, nun ebenfalls keinerlei heilende Wirkung. Der Auftrag des Verordnungsgebers ist aber klar: Grundrechtseinschränkungen sind aufzuheben. Einer Begründung bedarf es nicht, da die Grundrechte immer zu gelten haben. Umgekehrt braucht es hingegen gute Gründe. Der Schutz der Gesundheit ist ein solcher Grund, aber wenn sich trotz Lockdown an der Einschätzung nichts ändert, der Erfolg also ausbleibt, die Impfkampagne zudem von klaren politischen Fehlentscheidungen geprägt ist, sind mehr als Zweifel an den Maßnahmen angebracht.
Die Vorgabe von Inzidenzwerten, die unerreichbar sind, taugen nun überhaupt nicht als Begründung. Sie führen auch die Begrenzung von Maßnahmen auf maximal vier Wochen ad absurdum, da die Politik gar nicht anders kann, als wieder und wieder zu verlängern. Unbefristete Lockdowns braucht deshalb niemand zu fordern, sie sind schon längst Realität. Noch skurriler wird es, wenn bereits neue Inzidenzwerte formuliert werden. So drängen einige nicht mehr auf den Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche, sondern auf 25. Diese fragwürdigen Zielvorgaben seien ein Kardinalfehler der Politik, meint Schrappe. Falsch sei auch, die Kontakte immer noch nachverfolgen zu wollen. Das binde unnötig Kräfte in den Gesundheitsämtern, die an anderer Stelle dringender gebraucht würden, etwa bei einem effektiveren Schutz der Risikogruppen in den Altenpflegeheimen, wo die meisten Todesfälle zu beklagen sind.
Entscheidend ist aber auch die Frage, was nun Lockdowns am Personalmangel in den Krankenhäusern und den Pflegeeinrichtungen ändern oder an dem ausgedünnten öffentlichen Nahverkehr, den dichtgedrängt Schüler und Arbeitnehmer jeden Tag nutzen. Die Politik kommt nicht umhin, endlich Bilanz zu ziehen und einzugestehen, dass der neoliberale Weg der Privatisierung und Ökonomisierung von Bereichen der Daseinsvorsorge grundfalsch gewesen ist. Das offenbart diese Pandemie. Jedoch ist über Reformvorschläge nichts bekannt, was den Schluss nahelegt, an den unhaltbaren Zuständen eigentlich gar nichts ändern zu wollen oder diese unter dem Eindruck der Corona-Belastung weiterhin zu beschönigen. Statt Grundrechte in der irrigen Annahme zu opfern, das Virus dadurch irgendwie gnädig zu stimmen, sollte endlich die Einsicht wachsen, dass eine Korrektur der bisherigen Politik dringend geboten ist.
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JAN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.