Heute ist der 24. Dezember. Das ist übrigens ein ganz normaler Arbeitstag. Nur um mal eine Antwort auf eine der am häufigsten gestellten Fragen zu geben, die in dieser Jahreszeit üblicherweise gestellt werden. Einige werden auch an diesem Heiligabend arbeiten müssen. Die Mitarbeiter von Amazon zum Beispiel, sofern sie nicht gerade für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Einem Amts- oder Mandatsträger würde diese Beschäftigungsgruppe aber jetzt nicht als erstes in den Sinn kommen. Er würde eher auf das überlastete Personal in Krankenhäusern verweisen und mit Blick auf Silvester natürlich auch Rettungsdienste und Feuerwehren erwähnen. Das ist nicht falsch, aber eben auch Teil einer zur Schau gestellten Moralität, die ganz gelegen kommt, um einerseits von den Ursachen des Mangels in wesentlichen Bereichen der Daseinsvorsorge abzulenken und andererseits eine Verordnungspolitik zu verteidigen, bei der kaum noch einer mitkommt und die immer unübersichtlicher und unplausibler wird.
Symbolpolitik muss sichtbar sein
Dem moralischen Zeigefinger begegnet man derzeit überall. Er wird gehoben bei falsch getragenen Masken im Supermarkt oder wenn ein Geschäft in der Innenstadt trotz Lockdown einfach öffnet, wie bei der Parfümerie Douglas zuletzt geschehen. Verstöße gegen die geltenden Verordnungen sind ebenso mit empfindlichen Strafen belegt. Wenn Sie ohne Maske durch eine leergefegte Fußgängerzone gehen, kostet das je nach Bußgeldkatalog immer noch zwischen 100 und 150 Euro. In Bayern sind es natürlich 250 Euro. Grundsätzlich können Verstöße gegen geltende Corona-Vorschriften auch mehrere tausend, bis hin zu 25.000 Euro kosten. Dieses Regelwerk plus Lockdown werden, glaubt man den Umfragen, mehrheitlich von der Bevölkerung unterstützt, vermutlich auch deshalb, weil Konzerne wie Amazon jeden x-beliebigen Artikel in immer schnellerem Tempo bis nach Hause liefern können. Doch genau in diesen Betrieben bilden sich gerade jetzt die Hotspots mit hunderten von Infektionen. Man müsste sie daher eigentlich schließen und stattdessen die Geschäfte in der Fußgängerzone wieder öffnen, in denen Ansteckungen bisher nicht nachgewiesen sind.
Denn in beiden Fällen, bei Amazon auf der einen Seite und dem Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt auf der anderen Seite, gelten behördlich anerkannte Hygienekonzepte. Doch die einen lässt man offen, die anderen werden geschlossen. Vermutlich, weil man die Begegnungen in dem einen Fall nicht sieht, in dem anderen aber schon. Symbolpolitik muss eben sichtbar sein. Kontakte zu reduzieren, das ist das Gebot der Stunde. Doch ein wesentlicher Bereich, in dem sich Menschen auch weiterhin ständig begegnen, wird dabei mehr oder weniger ausgeklammert. Die Arbeitswelt. Die Schließung des Einzelhandels ist das Feigenblatt, quasi das sichtbare Zeichen einer zupackenden Corona-Politik, die in Wirklichkeit aber längst gescheitert ist. Natürlich gibt es Unternehmen, die in der Pandemie vorbildlich Hygienekonzepte umsetzen und darauf achten, dass Schutzvorschriften wie Maske und Distanzregeln eingehalten werden. Der lokale Einzelhandel hat das zum Beispiel sehr vorbildlich gemacht. Genutzt hat es nichts.
Zum Teil wird auch Arbeit ins Homeoffice verlagert. Es gibt aber viele Bereiche der Wirtschaft, in denen das nicht möglich ist. Hier ist Präsenz von Arbeitskräften erforderlich und unter Lockdown-Bedingungen sogar noch intensiver als bisher. Es kann daher niemanden wirklich überraschen, dass der Online-Handel und dessen Logistik gerade jetzt auf Hochtouren laufen. Das Schließen von Teilen des Einzelhandels vor Weihnachten hat diesen Effekt noch einmal zusätzlich verstärkt. In Sortierzentren des Amazon-Konzerns ist es nun zu Corona-Ausbrüchen gekommen. Bei Reihentests am Standort Garbsen bei Hannover hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass rund 250 Mitarbeiter infiziert waren und es rund 130 immer noch sind. Die zuständigen Behörden beteuern, dass das Infektionsgeschehen als solches lokal eingrenzbar sei, weil es sich auch um eine abgeschlossene Betriebsstätte handele. Überzeugend ist das nicht. Denn Mitarbeiter reisen zu den Schichten mit Bussen an. Jetzt werde dafür gesorgt, dass mehr Busse zur Verfügung stehen, Plätze damit frei bleiben und ein sonst übliches Gedränge vermieden wird. Bisher war das also nicht so.
„Sterben für den Standort“
Für die Beschäftigten, die positiv getestet worden sind oder sich weigern, einen Test machen zu lassen, gilt Quarantäne oder ein Betretungsverbot. Nur was heißt das schon. Ruht jetzt der Betrieb oder wird mit Hilfe der Leiharbeit das ausgefallene Personal durch frische Kräfte ersetzt? Was ist mit den Beschäftigten, die das Gelände nicht mehr betreten dürfen, erhalten sie weiter Lohn? Überhaupt scheint der Mensch in diesem Bereich der Wirtschaft mehr denn je eine Sache zu sein, die man nach Belieben verwerten kann. Er allein, und zwar nur in seiner Freizeit, ist dann auch eine Gefahr für die Gesundheit der Allgemeinheit, nicht der Weltkonzern mit seinem ausbeuterischen Konzept. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie wälzen Unternehmen die Verantwortung für den Infektionsschutz auf die Beschäftigten ab. Gleichzeitig muss aber die Arbeitsleistung weiter stimmen. „Sterben für den Standort“, hat das Sebastian Friedrich im Neuen Deutschland genannt. Ganz unrecht hat er damit nicht.
Während das Privatleben inzwischen streng reglementiert ist, gibt es keine Verordnungen oder gar Schließungen bei den für das deutsche Exportmodell systemrelevanten Konzernen. In diesem angeblich harten Lockdown werden sich auch weiterhin Menschen Arsch an Arsch in vollen Bussen und Bahnen auf den Weg zur Arbeit begegnen, wird weiterhin Nase an Nase gemeinsam Pause gemacht, werden weiterhin Pakete gepickt, gepackt und zugestellt.
Ist es also akzeptabel, wenn Amts- und Mandatsträger ständig von Solidarität reden und in einem moralisierenden Ton diese immer wieder von der Bevölkerung einfordern, obwohl sie selbst aber für eine Politik verantwortlich zeichnen, die alles andere als solidarisch ist?
Denn seit Monaten weiß man, dass Luftfilteranlagen in Schulen und kostenlose FFP2-Masken sowie regelmäßige Testungen in Alten- und Pflegeheimen sinnvoll sind. Aber nichts ist passiert. Seit Jahren ist bekannt, dass es in deutschen Kliniken, Alten- und Pflegeheimen gravierend an Pflegepersonal mangelt. Aber trotzdem wurde das deutsche Gesundheitssystem an allen Ecken und Enden kaputtgespart und auf Profit getrimmt, sodass Kliniken geschlossen wurden, Tausende an Krankenhaus-Keimen jährlich sterben und die meisten Arztpraxen und Krankenhäuser bereits unter „Normallast“ immer öfter in die Knie gehen. Die Krise muss der Weckruf sein für einen grundlegenden Wandel in der Gesundheitspolitik. Ein menschenwürdiges und zugleich funktionierendes Gesundheits- und Pflegesystem für jedermann, unabhängig von der Dicke der Brieftasche, ist notwendig und möglich. Aber das geht nur, wenn sich die Zivilgesellschaft stärker engagiert und Druck auf die Politik macht.
Quelle: aufstehen
Im Augenblick ist es eher anders herum. Die Politik macht immer mehr Druck auf eine Zivilgesellschaft, die in ihrer Freizeit das erreichen soll, was sich im Berufsalltag kaum vermeiden lässt. Immer häufiger werden daher auch Ausgangssperren beschlossen, die natürlich dann nicht gelten, wenn es um die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit geht. Damit ist auch das Geschäftsmodell Amazon mit seinem Mehrschichtbetrieb in Pandemie- und Lockdown-Zeiten geschützt, obwohl es mit dazu beiträgt, dass Inzidenzwerte weiter dramatisch ansteigen. Erstaunlich ist daher, dass einige Wissenschaftler weiter auf eine gescheiterte Strategie setzen und diese auch noch auf ganz Europa übertragen wollen. Ein Europa, dass sich seit geraumer Zeit selbst zerlegt und in dem Kompromisse neuerdings durch die Preisgabe der Rechtsstaatlichkeit erkauft werden.
Es bleibt aber dabei: It’s the economy, stupid!
Bildnachweis: Gerd Altmann auf Pixabay
DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.