Lockdown jetzt! oder auch schneller harter Lockdown jetzt!, das sind die populären Forderungen, die derzeit für Aufsehen und reichlich Bewegung in den Staatskanzleien sorgen. Ein entsprechender Beschluss wird noch an diesem Wochenende vorbereitet. Die als spannend geltende Frage, ob die neuen Beschränkungen noch vor oder erst nach Weihnachten gelten sollen, ist dabei vollkommen unerheblich. Das Virus dürfte in dem einen wie auch dem anderen Fall davon unbeeindruckt bleiben. Mit Pandemiebekämpfung oder Wissenschaft haben „Lockdown light“, „Wellenbrecher-Lockdown“ oder „harter Lockdown“ jedenfalls nichts zu tun.
Schauen wir zunächst nach Baden-Württemberg. Dort gilt seit Samstag etwas Neues, das sich mit der Schlagzeile, „Baden-Württemberg erlässt landesweite Ausgangsbeschränkungen“ entschieden klingend zusammenfassen lässt. Das ist aber nur ein Märchen, das der etwas derangierte Ministerpräsident, den Loriot selbst nicht besser hätte karikieren können, und sein Innenminister, der sich, gemessen an der Redezeit, wohl immer noch für den wichtigeren der beiden hält, der Öffentlichkeit erzählten. Die zwei Komiker haben die Ausgangsbeschränkungen am Tag zwischen 5 und 20 Uhr erklärt. Demnach ist der Aufenthalt im Freien nur mit triftigen Gründen erlaubt. Zu diesen gehört die Erledigung von Einkäufen. Das stellen wir uns kurz mal vor und fragen, was eine Ausgangsbeschränkung soll, wenn tausende Menschen mit triftigen Einkaufsgründen in der Innenstadt unterwegs sein dürfen.
Deshalb wird der Einzelhandel im nächsten Schritt vermutlich auch ganz geschlossen. Das muss dann aber gleich am Montag geschehen, um den letzten Run auf die Geschäfte auch ganz sicher zu unterbinden. Das und die Ächtung der mörderischen Glühweinstände wird auf jeden Fall etwas bringen, denn warum sollten die Leute dann auch noch rausgehen? Sie werden drinnen bleiben. Allerdings, wie viele Menschen sie dort treffen, lässt sich leider nicht mehr genau nachprüfen, auch mit albernen Verordnungen nicht, die eine Personenzahl X aus Y Haushalten vorschreiben wollen. Diesen Unfug könnte man sich im Prinzip auch sparen und gegen eine Empfehlung ersetzen, da niemand den Opa einfach wieder wegschickt, nur weil Oma schon als Nummer 5 am Tisch Platz genommen hat. Das geht, ganz ohne eine wissenschaftliche Expertise zu bemühen.
Nicht schwer zu verstehen
Apropos Wissenschaft: Die Stellungnahme der Leopoldina hat in dieser Woche für Aufsehen gesorgt, weil sie der Bundeskanzlerin wie gerufen kam. Reiner Zufall natürlich. Nur ist die Stellungnahme gar kein wissenschaftliches Papier, sondern ein Papier von Wissenschaftsvertretern, die dabei helfen wollen, einer bereits gescheiterten Krisenpolitik, zu der sie maßgeblich beitrugen, neue Legitimität zu verleihen. Sehr oft wird in diesen Tagen auf die Wissenschaft Bezug genommen, um eine Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, die anders offenbar nicht mehr zu erreichen ist. Das muss einen aber auch nicht wundern, angesichts der Schlagzahl, mit der gerade beschlossene Regeln durch immer neue ersetzt werden. Möglicherweise steigen die Infektionszahlen auch nur deshalb an, weil sich die Menschen darauf verlassen haben, dass der befristete November-Lockdown auch tatsächlich am 30.11. endet und nicht bis in den Januar hinein verlängert wird, was aber auch schon wieder obsolet ist, da ja nun ein noch härterer Lockdown kommen soll.
Es ist doch eigentlich gar nicht so schwer zu verstehen, dass das Vertrauen in Maßnahmen, für die eine bestimmte Frist, auch zwecks sachlicher Bewertung vereinbart worden war, weiter sinkt, je kürzer deren Halbwertszeit dann tatsächlich ist. Statt Maßnahmen zu überprüfen oder kritisch zu hinterfragen, werden immer nur noch mehr Einschränkungen gefordert, um eine auf die Prozentzahl genaue Kontaktreduktion endlich zu erreichen. Nur warum sollte man sich an Regeln gewöhnen, wenn es nach ein paar Tagen wieder neue gibt? Nicht die Menschen oder das Virus sind das Problem, sondern eine Regierung, die etwas von Wissenschaft faselt, aber nun 27 Millionen Menschen über 60 noch schnell zum Jahrgangstreffen in die örtlichen Apotheken einlädt. Reden Frau Merkel und Herr Spahn eigentlich auch mal miteinander?
Nicht falsch verstehen. Die kostenlose Abgabe von wirklich schützenden FFP2-Masken an die ältere Bevölkerung ist absolut richtig, aber warum erst jetzt? Bereits Ende Oktober ist etwas Ähnliches im damaligen MPK-Beschluss festgehalten worden. Selbst da war es schon zu spät, aber passiert ist trotzdem nichts. Das heißt, nicht ganz, denn zunächst musste die Verordnung dazu geschrieben werden. Wir denken alle mal kurz an Helmut Schmidt und die zahlreichen Verordnungen, die er damals erst hat aufsetzen lassen, um den Menschen auf den Dächern Hamburgs zu helfen. Aber zurück zu Spahn. Der will auch noch fälschungssichere Marken drucken und diese per Post an die Betroffenen verschicken lassen, damit die Treffen in den Apotheken dann im Januar gegen eine kleine Unkostenbeteiligung wiederholt werden können. Die Masken gleich zu verschicken, geht offenbar nicht. Dem Handelsblatt sagte Minister Spahn:
„Was ich gerade einmal mehr lerne und erlebe ist, dass so ein Satz, Risikogruppen sollen 15 FFP2-Masken erhalten, leicht geschrieben ist.“ Die Aktion sei ein „ziemlich komplexes Unterfangen“.
Das hat der Minister im Dezember, also rund neun Monate nach Ausbruch der Pandemie gelernt, alle Achtung. Möglicherweise ist der Satz mit einer Forderung nach einem harten Lockdown auch leicht dahingeschrieben, in der Praxis dann aber auch ein ziemlich komplexes Unterfangen. Vielleicht wirkt der nächste Lockdown, vielleicht auch nicht. Ganz sicher wird er aber einen weiteren Schaden anrichten. Vielleicht soll auch einfach nur wieder Handlungsfähigkeit simuliert werden, um hinterher im Erfolgsfall sagen zu können, genau daran hat es gelegen und wenn nicht, war es halt nicht hart genug. Einen Schuldigen, der eine noch schärfere Gangart verhinderte, wird Markus Söder schon präsentieren.
Bekannte Inhalte
Jedenfalls ändern Hysterie und Regelungswut nichts daran, dass ein Gesundheitssystem, das an seine Grenzen stößt, es nur deshalb tut, weil es zu mehr Kapazitäten beim Personal und besseren Arbeitsbedingungen nie einen mehrheitsfähigen politischen Willen gab. Der Eindruck ist ja falsch, dass ohne die Erkrankung Covid-19 auf den Stationen nun alles in bester Ordnung wäre. Seit Jahren wird über unhaltbare Zustände, Personalmangel und Überlastung geklagt, auch als Jens Spahn Anfang 2018 sein Amt antrat, das er ja nur bekam, weil Merkel einen Kritiker in die Kabinettsdisziplin einbinden wollte. In dieser Hinsicht ist das Versagen der Politik längst nachgewiesen, die Wirkung von Lockdowns hingegen nicht. Das hätte die Leopoldina ruhig mal ansprechen können. Denn die Rede der Frau Bundeskanzlerin war schließlich zum Haushalt gedacht. Und was sagte sie da?
„Wir müssen uns auch immer wieder vergegenwärtigen, was öffentliche Schulden bedeuten. Es bedeutet natürlich die Belastung künftiger Haushalte, es bedeutet die Notwendigkeit, das zurückzuzahlen, und es bedeutet Einschränkungen für künftige Ausgaben und für künftige Generationen.“
Quelle: Am Ende des Textes
Es war gleich am Anfang der Rede und entspricht dem, was seit Jahren von ihr zu hören ist. Man kann die Stelle daher auch so verstehen, dass Teile der jüngeren Generation, wenn sie denn mal alt geworden ist, ebenfalls in einem überlasteten Krankenhaus sterben wird, weil die Schulden von heute eben quasi naturwüchsig zu mehr Einschränkungen in der Zukunft führen müssen. Jedenfalls nach Logik der Kanzlerin. Das kann natürlich auch ein Missverständnis der Rede sein, aber was könnte oder sollte man denn nun im Gesundheitswesen verändern? In Merkels Vortrag sucht man eine Antwort darauf vergebens. Defizite habe die Pandemie eher an anderer Stelle offengelegt.
„Die Pandemie hat manche Defizite offengelegt, an deren Überwindung wir jetzt arbeiten; ich denke an die Digitalisierung. […] Wir werden das nächste Jahr zu einer Bildungsoffensive im digitalen Bereich nutzen.“
Quelle: Am Ende des Textes
Wie schön, eine digitale Bildungsoffensive ist sicherlich wichtig, wenn sich die Fenster zum Lüften kaum noch analog öffnen lassen. Merkel sagte außerdem, dass es in Deutschland immer noch Monate dauere, bis jeder Lehrer einen Laptop in den Händen halte. An allen Stellen könne man daher schneller werden, das Geld sei jedenfalls da. Das klingt gut, da es leider oftmals viele Jahre bis Jahrzehnte dauert, bis eine Schule oder Turnhalle mal saniert wird. Meistens scheitert es an der Finanzierung, mittlerweile aber auch an den Planungskapazitäten der Baubehörden, die, wie die Krankenhäuser, eher auf Kosteneffizienz, denn auf ihren eigentlichen Zweck getrimmt sind. Leider spart die Kanzlerin dieses zentrale Ergebnis neoliberaler Politik, die gerade sie seit 15 Jahren nachhaltig betreibt, in ihrer Rede gänzlich aus.
Gern wird hier auch noch einmal der Hinweis auf den Dresdner Bildungsgipfel gegeben, der vor 12 Jahren stattfand und auf dem dieselbe Kanzlerin erklärte, ab 2015 zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung investieren zu wollen. Auf welchem Niveau die Ausgaben derzeit verharren, kann sich der Leser selbst heraussuchen. Bleibt nur noch die Frage zu klären, auf welchem neuen Stand Regierung und Parlament seit dem oft kritisierten Applaus für die Pflegekräfte in der ersten Hälfte des Jahres inzwischen angelangt sind?
„Wir denken an die, die zu dieser Stunde in den Krankenhäusern um ihr Leben kämpfen, an die, die alles für sie geben, die Ärzte und Pfleger. Und ich sage Ihnen ganz offen: Das kommt mir in diesen Tagen manchmal etwas zu kurz. Was sich da abspielt, was da geleistet wird, dafür ein herzliches Dankeschön!“
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Quelle: Am Ende des Textes
So steht es im Protokoll [die Quelle am Ende des Textes]. Mit anderen Worten. Es bleibt alles so, wie es ist, es klingt nur etwas emotionaler.
Bildnachweis: dianakuehn30010 auf Pixabay
DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.