Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Was die Bundesregierung mit Blick auf die Pandemie tut, könnte das Parlament auch mit Blick auf diese hilflose Bundesregierung tun. Und zwar, indem die Abgeordneten der Bundeskanzlerin nach Artikel 67 des Grundgesetzes das Misstrauen aussprechen und einen Nachfolger wählen. Kandidieren müsste der Fraktionschef der SPD, Rolf Mützenich, der im Plenum hoch anerkannt und vor allem glaubwürdig ist. Es folgen Gründe für ein zugegebenermaßen derzeit vollkommen abwegiges Szenario. Es ist ein Gedankenexperiment.
Im Bundestag ist eine Regenbogenkoalition aus SPD, FDP, Linken und Grünen rechnerisch denkbar, um Angela Merkel als Bundeskanzlerin abzulösen, und zwar dann, wenn sich die Lage über die Feiertage und Neujahr weiter zuspitzt und ein harter Lockdown scheitert. Das verfassungsrechtliche Mittel wäre das konstruktive Misstrauensvotum nach Artikel 67 des Grundgesetzes. Was spräche denn aus heutiger Sicht für eine Regenbogenkoalition? Absolut gar nichts, da es in den Oppositionsparteien sehr starke Kräfte gibt, die den Kurs der Kanzlerin einfach stützen, egal was ist. Vor allem bei den Grünen, die sich bereits darauf vorbereiten, als neuer Juniorpartner an der Seite der Union ab 2021 regieren zu dürfen. Insofern könnte man die Überlegungen gleich wieder begraben. Aber welche Dynamik sich durch den gesellschaftlichen Schock Corona und die Unfähigkeit der Regierenden, die Kontrolle zu behalten, noch entwickelt, ist offen.
FDP, Linke und Grüne kooperieren bereits. Hier gibt es Leute, die nicht nur gut miteinander können, sondern auch zu inhaltlichen Ergebnissen beitragen. Der Vorschlag für ein neues Wahlgesetz ist nur ein Beispiel, bei dem sich die drei Bunten konstruktiv zusammengetan haben und es der SPD schwer machten, dagegen zu sein. Viel interessanter ist aber die Zusammenarbeit in den Untersuchungsausschüssen. Im Wirecard-Untersuchungsausschuss sind die „Wirecard-Detektive“ Fabio De Masi (Linke), Florian Toncar (FDP) und Danyal Bayaz (Grüne) gemeinsam unterwegs. Sie setzen vor allem auch das Kanzleramt unter Druck, das in die Affäre verwickelt ist. Ebenso ist das Finanzministerium kompromittiert und damit auch Olaf Scholz, der bei den Cum-Ex-Geschäften als Erster Hamburger Bürgermeister zudem in weitere Erklärungsnot geraten ist. Der Kanzlerkandidat der SPD ist damit angreifbar, er ist aber auch so kein wirkliches Zugpferd, wie sich immer deutlicher zeigt, und könnte von einem Mützenich, der bereits Johannes Kahrs zur Strecke gebracht hat, in Schach gehalten werden. Jedenfalls in der biergetränkten Fantasie des Autors.
Doch zurück zu Wirecard. Der Fall entwickelt sich zum wohl größten Wirtschaftsskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte und viele prominente Politgrößen wie auch Institutionen sind darin verwickelt. Peter Altmaier, Markus Söder, Finanzstaatssekretär Jörg Kukies, die Bafin und Wirecard-Lobbyist Karl-Theodor zu Guttenberg, der die Kanzlerin im Vorfeld einer China-Reise bezirzte bzw. von Merkel selbst um eine Argumentationshilfe zu dem Zahlungsdienstleister gebeten wurde. Was wäre denn, wenn man diesen Umstand in einer der größten Krisen als Hebel nutzte, um mit der Kanzlerschaft Merkels endlich Schluss zu machen?
Es wäre geradezu fahrlässig, das fortgesetzte Regierungsversagen nicht zu nutzen, um einen Wechsel vorzubereiten oder zumindest einmal durchzuspielen. Die Union ist weiterhin führungslos und hat derzeit nur einen Söder im Angebot, der allen Ratschläge erteilt und vielen in der CDU mit seiner selbstherrlichen Art überhaupt nicht schmecken dürfte. Wie sieht es in der Bundestagsfraktion der Union eigentlich aus? Sind das alles treue Merkel-Fans? Oder gibt es da inzwischen nicht auch ein paar Vernünftige, die den Söder ob seines Stils verachten und Mützenich respektieren? Was ist mit der SPD-Fraktion. Ist man hier so beeindruckt von den Umfragen und dem Rückhalt der Kanzlerin bei Bevölkerung und Medien, dass man sich scheut, auch nur irgendeine Absetzbewegung zu wagen? Im Untersuchungsausschuss zur Pkw-Maut, einem weiteren unfassbaren Skandal dieser Regierung, wollen FDP, Linke und Grüne ein Kreuzverhör mit Verkehrsminister Andreas Scheuer erreichen. Zu Recht, denn Scheuer steht im Verdacht, das Parlament belogen zu haben. Union und SPD lehnen die Forderung aber ab und vor allem die Sozialdemokraten ergreifen Partei für den Skandalminister aus den Reihen der CSU. Ist das taktisch klug?
Bei allen Themen, die jetzt noch anstehen, schiebt die Union einen Riegel vor. Die SPD wird vorgeführt, urteilt Wolfgang Michal im Freitag. Und die Antwort der Parteivorsitzenden Saskia Esken, einer parlamentarischen Hinterbänklerin, lautet, sie schließe eine Neuauflage der Großen Koalition nicht aus. Was für ein Armutszeugnis, wenn man bedenkt, unter welchen Voraussetzungen und Ankündigungen Esken und Walter-Borjans zu SPD-Parteivorsitzenden gewählt worden sind.
Die FDP-Fraktion vertritt in der Corona-Krise eine differenzierte Position, übt sachliche Kritik und trägt zum Teil überzeugende Argumente vor. Sie sprechen auch für viele Betroffene, die der Endlos-Lockdown in wirtschaftliche Not treibt. Partei- und Fraktionschef Lindner gilt nicht als Merkel-Freund. „Die wollen mich weghaben“, soll die Kanzlerin unter vier Augen zu Seehofer während der Jamaika-Verhandlungen gesagt haben. Was, wenn das stimmt und Lindner sein Werk nun vollenden könnte? Die FDP hätte wohl am wenigsten Probleme mit einem Sturz der Kanzlerin, bei Linken und Grünen wären die Widerstände weitaus größer. Wie sollte man auch Göring-Eckardt, Kipping und Co. für einen derartigen Plan gewinnen? Das wäre aus deren Sicht ja letztlich auch nur wieder Wasser auf die Mühlen der AfD. Und der Kampf gegen die Rechten eint alle von Union, FDP, Grünen, SPD und Linken.
Das Kabinett Merkel IV kann sich glücklich schätzen, dass es die AfD-Fraktion überhaupt gibt. Denn die sichert die Bundesregierung ab, indem sie alle anderen Fraktionen im Parlament diszipliniert und damit mal mehr mal weniger offen zu Unterstützern der Kanzlerin macht, wie beispielsweise die Debatte um die Änderung des Infektionsschutzgesetzes kürzlich gezeigt hat. Schaut man sich aber das fortwährende Dilemma der SPD-Fraktion an und die durchaus kooperative Zusammenarbeit von FDP, Linken und Grünen im Parlament, gäbe es zumindest einmal Anlass für Überlegungen, die zu früheren Zeiten in den Strategieabteilungen der Parteien vermutlich gang und gäbe gewesen wären. Aber warum sollte man Merkel auch stürzen. Das wäre überhaupt nicht staatstragend, in der Krise fatal, natürlich AfD-nah und damit insgesamt im höchsten Maße verantwortungslos. Was sich die Autoren der Verfassung überhaupt dabei gedacht haben, den oder die Regierungschefin per konstruktiven Misstrauensvotum zu ersetzen? Außerdem geht sie ja auch freiwillig im nächsten Jahr.
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DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.