Die Bundesregierung und die angeschlossenen Staatskanzleien der Länder sind argumentativ einfach blank. Weil sie nicht wissen, was wie wirkt, drehen sie sich immer wieder orientierungslos im Kreis und messen vor lauter Hilflosigkeit die Corona-Toten inzwischen in abgestürzten Flugzeugen. Am Ende von stundenlangen Verhandlungen stehen Maßnahmen, die kaum einer versteht, geschweige denn beachten dürfte. Da hilft auch das Emotionalisieren von Sterbestatistiken nichts. Und noch etwas: Das gerade erst überarbeitete Infektionsschutzgesetz wird durch diesen Beschluss mal eben als vollkommen nutzlos bloßgestellt.
Denn im dritten Absatz des neuen Paragraphen 28a steht, dass bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen. Nun haben Merkel und ihre Landesfürsten mal eben wieder einen neuen Schwellenwert beschlossen. Bei 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb einer Woche sollen die umfassenden allgemeinen Maßnahmen nochmals erweitert werden, heißt es in dem MPK-Beschluss. Auf welcher Grundlage, fragt man sich da. Da muss wohl rasch ein viertes Bevölkerungsschutzgesetz im Eilverfahren her.
Es sind aber auch wieder Dinge beschlossen worden, die Gerichte bereits verworfen haben, wie absurde Quadratmeter-Regeln in Geschäften. Es sei nicht erkennbar, warum sich das Coronavirus in größeren Läden anders verhielte, als in kleineren Geschäften, so die Begründung aus dem Mai. Die Beachtung von Rechtsprechung und vor allem die Evidenz ist das Problem dieses Krisenmanagements. Erkenntnisse werden ignoriert oder gar nicht erst versucht, sie zu gewinnen. Das RKI mit seinem Datensalat bildet immer noch die alleinige Grundlage für alle Entscheidungen. Das sollte endlich beendet werden.
Gerade steigen wieder die Ansteckungen in Alten- und Pflegeheimen. Die Hälfte bis zwei Drittel aller Corona-Toten kommen aus diesem Bereich. Menschen, die hier leben und arbeiten, haben also ein sehr großes Risiko, sich zu infizieren und zu erkranken. Das alles ist bekannt, doch die Fakten werden einfach nicht zur Kenntnis genommen, sagt Eugen Brysch, der Vorstand der deutschen Stiftung Patientenschutz. „Zwar reden die Regierungschefs viel von den vulnerablen Gruppen, aber die Fakten werden nicht zusammengetragen. Im neunten Monat der Pandemie ist für Bund und Länder die Situation der hier lebenden und arbeitenden Menschen eine Blackbox.“
Was bringt es also den Bewohnern von Altenpflegeheimen, wenn man im Freien die Maskenpflicht verschärft? Was bringt es den Bewohnern, wenn man sich nun statt mit zehn nur noch mit fünf anderen Menschen treffen darf? Was bringt es den Bewohnern, wenn Restaurants, Cafés sowie Freizeit- und Kultureinrichtungen weiterhin geschlossen bleiben? Das sind Fragen, die man auch in den Parlamenten hätte diskutieren können. Stattdessen sitzen die Regierungschefs stundenlang zusammen und bringen Dinge zu Papier, die weder eine klare Strategie erkennen lassen, noch eine Perspektive aufzeigen. Die Corona-Warn-App ist da nur ein Beispiel dieses Versagens. Ihre Weiterentwicklung wird lediglich geprüft, Umsetzungen für 2021 vage angekündigt. Damit bleibt die App nutzlos und teuer.
Und vor diesem Hintergrund verlangt die Bundeskanzlerin erneut eine nationale Kraftanstrengung. Da wirkt es wie ein schlechter Scherz, dass nun endlich FFP2-Masken und Schnelltests an die Altenpflegeheime, Krankenhäuser und Behinderteneinrichtungen verteilt werden sollen, gegen ein kleines Entgelt natürlich. Das ist ja beim Bordservice im Flugzeug inzwischen auch nicht anders.
Bildnachweis: Screenshot aus Livestream „Ihr Programm“ auf YouTube, 25.11.20
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.