„Es gibt nichts drum herum zu reden, die Situation ist besorgniserregend“, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (Quelle: HAZ). Die bisherigen Maßnahmen hätten „keinerlei Bremsspuren“ bei den Infektionen gezeigt. „Wir müssen das Ansteckungsrisiko noch weiter absenken und deshalb den Menschen wohl weitere Einschränkungen zumuten.“ Mit anderen Worten: Die bisherigen Maßnahmen, die die Landesregierung allein ohne das Parlament beschlossen hat und die Gerichte zum Teil als rechtswidrig zurückgewiesen haben, sind wirkungslos. Als Lösung wird präsentiert, die Dosis dessen, was nicht wirkt und vermutlich auch weiterhin rechtswidrig ist, einfach zu erhöhen. Das klingt nicht gerade nach einer plausiblen Strategie, sondern eher nach Hilflosigkeit.
Ohne die aktuellen Infektionszahlen des RKI, ist es weitgehend still. Das hat man heute wieder gesehen, da es einmal mehr technische Probleme bei der Aufbereitung der übermittelten Daten gab. Die Schlagzeilomaten schweigen daher zunächst, was auch eine Form von Hilflosigkeit ist. Zwar wird seit Wochen erklärt, man müsse viel sorgsamer bei der Interpretation sein und nicht allein auf die Höhe der Neuinfektionen starren, doch gemacht wird es trotzdem, um eine ebenso steigende Nachfrage nach Alarmismus zu bedienen, hinter die eine klassische, einordnende Nachrichtenauswahl zurückzutreten hat.
Die Medien orientieren sich, inzwischen zum Teil von Algorithmen gesteuert, in ihrer Auswahl immer mehr an der Nachfrage der Nutzer. Genau an dieser Stelle wird die Aufmerksamkeitsökonomie, welche die Gesellschaft prägt, zum Verhängnis. Überaufmerksamkeit und einseitige Fokussierung erzeugen beim Publikum Interesse, aber eben auch Angst; diese Angst generiert steigende Nachfrage nach Corona-News, die inzwischen ja online in Echtzeit messbar ist. Die Nachfrage wiederum verleitet Redaktionen dazu, diese zu bedienen und die Berichterstattung weiter auf die Pandemie hin zu verengen – bis hin zum Tunnelblick. Alles, was nicht mit Corona zu tun hat, wird über Monate hinweg nachrangig.
Quelle: Süddeutsche
Das wiederum setzt die Politik unter Druck, sinnlose Dinge zu beschließen, nur um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Man muss ja irgend etwas tun. Beim letzten Mal soll die Kanzlerin ihre Unzufriedenheit über die Gespräche mit den Länderchefs auf die bockige Formulierung gebracht haben: „Dann sitzen wir in zwei Wochen eben wieder hier.“ Nun ist dieser Zeitpunkt gekommen und härtere Maßnahmen bis hin zum Lockdown liegen auf dem Tisch. Also auf dem der Bild-Zeitung, aus deren Ausgabe die Ministerpräsidenten dann erfahren, worüber sie heute mit der Kanzlerin beraten dürfen. Ein übliches Vorgehen von Angela Merkel, deren Politikstil kaum in der Kritik steht, der aber dazu führt, dass am Ende nicht sie, sondern ganz andere als Buhmänner von der Öffentlichkeit auseinandergenommen werden.
Selbstreflexion angezeigt
Es drohen wieder Uneinigkeit und auch weitere Klagen gegen Einzelverordnungen, die das Prinzip der Verhältnismäßigkeit grob verletzen und ja, eben auch verfassungswidrig sind. Der Verordnungsgeber wird dafür aber nicht kritisiert, sondern derjenige, der sich juristisch erfolgreich gegen die ungerechtfertigten staatlichen Eingriffe wehrt. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki sagt:
Vielleicht wäre etwas mehr Selbstreflexion angezeigt. Denn nicht derjenige, der in einem Rechtsstaat vor Gericht Recht bekommt, hat etwas Falsches gemacht, sondern diejenigen, die ihm dieses Recht nehmen wollten.
Quelle: Cicero
Eine Art Selbstreflexion findet aber weiterhin nicht statt. In ihrer Hilflosigkeit versucht die Regierung eher zu noch schärferen Maßnahmen zu greifen, von denen jetzt schon klar ist, dass sie vor Gerichten keinen Bestand haben werden. Doch die bisherige Corona-Strategie angesichts des Schadens, der bereits angerichtet worden ist, als gescheitert zu erklären, dazu fehlt der immer noch allein handelnden Exekutive der Mut. Eher sonnt man sich im angeblichen Erfolg vergangener Sommertage. Dabei muss man schon sehr laut fragen, was eigentlich während dieser Zeit unternommen worden ist, um auf die immer befürchtete nächste Welle besser vorbereitet zu sein? Es wurde gesagt, man dürfe die Lage nicht unterschätzen, das Virus sei noch da und gefährlich. Nun hilft die Bundeswehr beim Telefondienst in den Gesundheitsämtern. Da hatte man irgendwie Anderes erwartet.
Die Corona-Strategie erzeugt Fehler, siehe aktuell hier und hier. Auch das wird immer klarer. Der Ansatz, alle Kontakte nachverfolgen zu müssen, ist deshalb falsch, da logistisch nicht leistbar und medizinisch auch fragwürdig. Der Schutz der Risikogruppen lässt sich auf diese Weise eben nicht bewerkstelligen, was mittlerweile auch der Podcast-Virologe des NDR erkannt hat. Man kann nicht alle Infektionen verhindern und es ist auch gar nicht nötig, wenn es auf der anderen Seite gelingt, die Risikogruppen besser zu schützen. Dafür muss der Regierung aber mehr einfallen, als AHA+L+irgendwas und willkürlich festgelegte Inzidenzwerte, die Karten bedrohlich rot einfärben und Landkreise automatisch zu Risikogebieten erklären. Es hat auch wenig Sinn, immer mehr Verbote für den öffentlichen Raum zu erlassen und sich dann darüber zu wundern, dass das Private zum schwer kontrollierbaren Hotspot wird.
Gegen die Hilflosigkeit der Regierenden gibt es ein Mittel. Es heißt Demokratie. Die Parlamente müssen mitreden und entscheiden, auch aus Gründen der Rechtssicherheit. Denn vor Gericht scheitert die Verordnungspraxis ja auch deshalb immer häufiger, weil der Verordnungsgeber nicht mehr in der Lage ist, nachvollziehbare Begründungen für seine Beschlüsse abzugeben. Wenn eine Regierung ihr Handwerk nicht mehr beherrscht, ist es dringend an der Zeit, dass das Parlament die Kontrolle zurückerhält und auch andere Experten hört, als die, die der Kanzlerin gerade in den Kram passen. Alternative Vorschläge gibt es ja. Nur muss man sie auch zulassen und diskutieren, statt sie durch eine hilflose Einleitung, die die Zahl der Neuinfektionen erneut ganz nach vorne stellt, gleich wieder zu entwerten.
„Ausgerechnet am Tag, an dem ein Neuinfektions-Höchststand gemeldet wird, fordern Wissenschaftler und Ärzte um den Virologen Hendrik Streeck eine Abkehr von der bisherigen Strategie.“
Bildnachweis: Screenshot, Süddeutsche Zeitung, abgerufen am 28.10.20.
OKT
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.