Die Ministerpräsidenten Michael Kretschmer aus Sachsen, Reiner Haseloff aus Sachsen-Anhalt und Bodo Ramelow aus Thüringen werden mir persönlich immer sympathischer, weil sie die einzigen Regierungschefs sind, die noch etwas klaren Verstand besitzen. Sie betrachten die Corona-Lage nüchtern und kritisieren zurecht den chaotischen Aktionismus der Amtskollegen, der mit jeder Steigerung der Infektionszahlen zunimmt. Kretschmer sagt beispielsweise im Spiegel-Interview.
Wir wissen ja heute viel mehr als zu Beginn der Pandemie, zum Beispiel, wie sich das Virus überträgt. Und wir haben Instrumente, damit umzugehen.
Das ist eine simple Feststellung, bei der man sich fragen muss, warum sie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Stattdessen wird wie zu Beginn der Pandemie so getan, als sei alles furchtbar neu und potenziell schrecklich. Dem ist nicht so. Es gibt beispielsweise keinen Grund, sich vor steigenden Infektionszahlen in dem Ausmaß zu fürchten, wie das im März der Fall war. Erstens werden erfreulicherweise viel weniger Menschen schwer krank. Zweitens hat sich die medizinische Behandlung auch ohne Impfstoff verbessert. Drittens ist mittlerweile sehr klar geworden, wo die Mängel in unserem Gesundheitssystem liegen, was viertens in der Tat einen Anlass zur Sorge bietet, da Bundes- und Landesregierungen nichts unternehmen, diese bekannten Mängel auch abzustellen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Denn nach dem Applaus kommen bunte Filmchen.
So schmeißt beispielsweise Bundesfamilienministerin Franziska Giffey öffentliches Geld für eine sinnlose PR-Kampagne aus dem Fenster. „Ehrenpflegas“ heißt der Quatsch, bei dem es sich um eine Web-Miniserie auf Fack ju Göthe-Basis handelt, die gezielt Jugendliche ansprechen und für den Pflegeberuf begeistern soll.
Wie begeistert man Jugendliche für eine Ausbildung in der Pflege? Das Bundesfamilienministerium geht neue Wege – mit der Miniserie „Ehrenpflegas“. Sie soll unkonventionell und unterhaltsam über den Pflegeberuf und die neue Pflegeausbildung informieren und die Jugendlichen auf den Kanälen erreichen, die sie auch wirklich nutzen.
Quelle: BMFSFJ
Unkonventionell und unterhaltsam? Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe spricht von klischeehafter und schädlicher Darstellung des Berufszweigs. So nach dem Motto, wer sonst keine Perspektiven hat und nicht weiß, was er mit seinem Leben anstellen soll, kann doch etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tun und eine Pflegeausbildung absolvieren. Diese Darstellung ist kritikwürdig, aber der eigentliche Skandal ist, dass das Ministerium glaubt, mit einer derartigen Ansprache, Jugendliche für den Beruf tatsächlich begeistern zu können.
Das hat schon eine komische Note zu glauben, man könne über solche Formate junge Leute begeistern für ein schwieriges Berufsfeld.
Quelle: Stefan Sell auf SWR 2
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell weist darauf hin, dass längst bekannt ist, warum sich junge Menschen für den Pflegeberuf eher weniger bis gar nicht interessieren. Das liegt nicht an einem verstaubten Image, das mit lustigen Filmchen aufgepeppt werden muss, sondern an einem „gestörten Preis-Leistungs-Verhältnis“. Nicht nur die schlechte Bezahlung halte junge Menschen demnach davon ab, einen Pflegeberuf zu ergreifen, es fehle außerdem die Möglichkeit zur beruflichen Weiterentwicklung. Junge Menschen sind also nicht ein bisschen blöd, wie es die Fack ju Göthe-Macher inszenieren, sondern sehr differenziert und klar in ihren Ansichten.
Ein bisschen blöd stellt sich dagegen das Ministerium an, das die Ergebnisse einer Studie bewusst falsch liest und daher annimmt, das Interesse am Pflegeberuf sei vergleichsweise hoch. Die Wahrheit ist, nur 4 Prozent der Befragten können sich sehr gut eine Tätigkeit in der Pflege vorstellen, während das Ministerium, das die Studie in Auftrag gegeben hat, von einer grundsätzlichen Attraktivität spricht.
Hinzu kommt, dass ein Mindestlohn in Höhe von 15 Euro pro Stunde für eine Pflegefachkraft, die also eine dreijährige qualifizierte Ausbildung absolviert hat und eine große Verantwortung im Umgang mit Menschen übernimmt, lächerlich niedrig ist. Stefan Sell spricht im Interview von einer Peinlichkeit und verweist darauf, dass Einstiegsgehälter in anderen Branchen deutlich höher sind. Unwürdig und im Endeffekt spalterisch war auch das amtliche Gewürge um den Corona-Pflegebonus, den jetzt nur ein Teil der Fachkräfte erhalten und andere wiederum nicht. Das seien ganz schreckliche Signale, so Sell im Gespräch mit SWR 2.
Ist Deutschland also bislang gut durch die Corona-Pandemie gekommen? Nein. Wer nur auf die Infektionszahlen starrt und glaubt, dass Masken, Sperrstunden, Beherbergungsverbote und möglichst noch höhere Bußgelder irgend etwas verbessern, will nur verschleiern, wo sich die tatsächlichen Probleme in diesem Land befinden. Oder anders gefragt in Anlehnung an den Kabarettisten Christoph Sieber: Warum werden die, denen wir unsere Kinder, Kranken und Alten anvertrauen schlechter bezahlt als die, denen wir unser Geld anvertrauen? Ob Kretschmer, Haseloff und Ramelow eine Antwort darauf haben, ist natürlich offen. Sie könnten die Frage aber mal bei der Kanzlerin im Risikogebiet stellen und dem Oberkasper der Symbolpolitik aus Bayern einmal in die Parade fahren.
Bildnachweis: Screenshot aus Jugendbefragung „Kindertagesbetreuung und Pflege – attraktive Berufe?“
Redaktioneller Hinweis:
In einer früheren Fassung des Textes hieß es in einem Titelbild, das der Homepage des Bundesfamilienministeriums entnommen war, die Produzenten von „Fack ju Göthe“ hätten die Serie „Ehrenpflegas“ produziert. Das ist nicht korrekt. Sie wurde von Constantin Entertainment produziert, einer Tochterfirma der Constantin Film AG, die wiederum hinter „Fack ju Göthe“ steht. Das Titelbild wurde daher ersetzt.
OKT
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.