Gestern hat wieder das Corona-Kabinett getagt. Die wichtigste Aufgabe sei demnach auch weiterhin die Kontaktnachverfolgung, um Infektionsketten zu durchbrechen, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert im Anschluss in der Bundespressekonferenz. Daher sei der Blick auf die Neuinfektionen, was ja mittlerweile deutlich schärfer kritisiert wird als vorher, schon von Bedeutung, weil diese Zahl angebe, wie viele Fälle man nachverfolgen müsse. Das lasse sich aber nicht beliebig steigern, da die Gesundheitsämter begrenzte Kapazitäten haben. Das ist richtig. Sorge bereitet also die Logistik. Nur warum sollte man immer noch alle Infektionen ermitteln wollen, wenn doch inzwischen klar ist, dass vergleichsweise wenige Menschen tatsächlich schwer erkranken?
Neben all den Warnungen vor einem neuerlichen Kontrollverlust oder vollen Krankenhäusern wird in den Lageberichten ein an sich beruhigender Aspekt nur am Rande und ohne besondere Würdigung erwähnt. Die Zahl der schweren Krankheitsverläufe hat abgenommen. Zwar steigen die Hospitalisierungen im Augenblick wieder an, aber diese absolute Zahl hat nur dann Aussagekraft, wenn sie ins Verhältnis zu den Neuinfektionen gesetzt wird. Da letztere ebenso stark gestiegen sind, hat sich relativ im Vergleich zu den Vormonaten nicht viel geändert. Der Anteil der schweren Verläufe gemessen an den bekannten Infektionen ist immer noch gering. Es gibt also keinen Grund, ausschließlich besorgt zu sein, man könnte diese Entwicklung seitens der Regierung auch mal als erfreulich undramatisch hervorheben.
Regelungswut
Das Gegenteil ist aber der Fall, weil die vereinbarte Kommunikationsstrategie seit Monaten nicht verändert worden ist. Möglicherweise hat das Verhalten der Regierung mit den Erfahrungen aus dem Frühjahr zu tun, als man, ohne das Virus näher zu kennen, von einer weitgehend harmlosen Erkrankung sprach. Es folgte eine notwendige Kurskorrektur, die bis heute durchgehalten wird, obwohl das Virus eben nicht mehr gänzlich neu ist und die Daten auch etwas anderes aussagen, als vor ein paar Monaten. Befürchtet wird nun, dass es wieder so werden könnte wie im Frühjahr, als man die Kontakte nicht mehr nachverfolgen konnte und folglich das öffentliche Leben für eine gewisse Zeit zum Stillstand bringen musste. Offiziell möchte niemand einen weiteren Lockdown herbeireden, die aktuelle Regelungswut führt aber im Prinzip zum selben Ergebnis.
Jede Steigerung der Infektionszahlen wird zum Anlass genommen, irgendetwas zu beschließen und sei es noch so unsinnig. Das überhastet ausgesprochene Beherbergungsverbot aus der letzten Woche ist nur eines dieser Beispiele, das sogar dem hysterischen Dampfplauderer Karl Lauterbach zu weit geht. Die Akzeptanz der anderen Regeln könnte unter Anordnungen leiden, die nachweislich nichts bringen, so der SPD-Politiker. Auch Sperrstunden und Alkoholverbote sind fraglich, da sich mit diesen Maßnahmen das Infektionsgeschehen eben nicht eindämmen lässt, sondern eher das Gegenteil erreicht wird. Am Mittwoch kommen Bundesregierung und die Ministerpräsidenten erneut zusammen. Befürchtet wird weiteres Ungemach, natürlich abhängig von der alles entscheidenden Infektionszahl. Treibende Kraft ist wieder der Kasper aus Bayern, der endlich verständlichere Regeln für alle durchsetzen will, seinen Leuten zu Hause aber auch eine Verordnung zumutet, die 14 Seiten lang ist. Es könnte natürlich sein, dass es eine Rücknahme der Reisebeschränkungen gibt, die den absurden Nebeneffekt haben, dass gesunde Menschen wegen Corona-Tests Schlange stehen und somit wieder begrenzte Laborkapazitäten sinnlos vergeudet werden.
Der übliche Streit zwischen den Regierungschefs, die seit Monaten ohne parlamentarische Kontrolle nur auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes schalten und walten, ist in vollem Gange. Am Ende dürfte es als Kompromiss vermutlich ein höheres Bußgeld für Maskenverweigerer geben, obwohl die neuesten, ausdrücklich nicht satirisch gemeinten Anordnungen in Städten wie Hamburg ein Schmerzensgeld rechtfertigen würden. Die Absurdität dieser Regelung hat Tom Wellbrock bei den neulandrebellen in einem Podcast entlarvt. Er zeigt, dass selbst die städtischen Mitarbeiter für Öffentlichkeitsarbeit an die Grenzen der Aufklärung stoßen. Spannend ist auch die Frage, wer diesen immer größer werdenden Haufen an unsinnigen Vorgaben überhaupt noch kontrollieren soll. So hat der Städte- und Gemeindebund bereits herausgefunden, dass sich das mit dem verfügbaren Personal in den Ämtern gar nicht bewerkstelligen lässt. Man will daher private Sicherheitsdienste einspannen. Die sind offenbar umsonst zu haben, denn die öffentlichen Arbeitgeber weigern sich in der aktuellen Tarifauseinandersetzung beharrlich, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, geschweige denn ein Angebot für eine bessere Bezahlung ihrer eigenen Mitarbeiter vorzulegen.
Regierungsversagen
Der Applaus aus dem Frühjahr muss reichen. Die Arbeitgeber halten sich offenbar streng an das Abstandsgebot und die Bundesregierung predigt seit Monaten immer dasselbe. Die AHA-Regeln, die zuletzt um A wie App und L wie Lüften ergänzt worden sind, sollten dringend eingehalten werden, sonst… . Da schwingt ein pauschal diffuser Vorwurf sowie die permanente Drohung weiterer Sanktionen mit. Das ist verantwortungslos, da auf diese Weise ein unerträgliches Ausmaß an gesellschaftlicher Spaltung erzeugt und hingenommen wird, was die notwendige Kritik am Handeln der Regierung weiter in den Hintergrund treten lässt. Wieso gibt es eigentlich in Deutschland keine Daten aus Antikörperstudien, die im Frühjahr angekündigt worden sind? Jens Berger schreibt auf den NachDenkSeiten, dass Gesundheitsministerium und Robert Koch-Institut (RKI) den Zeitrahmen für Untersuchungen, die hier Licht ins Dunkel hätten bringen könnten, untätig haben verstreichen lassen. Stattdessen will das RKI jetzt eine bundesweite Studie starten, um herauszufinden, wie viele Menschen bereits eine Infektion durchgemacht haben. Wie soll das aber gelingen, wenn doch bereits bekannt ist, dass sich die Antikörper nach zwei bis drei Monaten kaum noch nachweisen lassen.
Laut Bevölkerungsstatistik leben rund 83 Millionen Menschen in diesem Land. Wenn die sich alle an die AHA+A+L Regeln halten würden, ließe sich die Pandemie am besten kontrollieren, erklären Bundes- und Landesregierungen gebetsmühlenartig, obwohl die Erkrankung eben nicht für alle gleichermaßen gefährlich ist und es daher auch kein plausiblen Grund gibt, eine Ansteckung bei jüngeren Menschen um jeden Preis zu verhindern. „In dem Maße, wie sich die Immunität in der Bevölkerung aufbaut, sinkt das Infektionsrisiko für alle – auch für die gefährdeten Personengruppen“, schreiben beispielsweise Epidemiologen für Infektionskrankheiten und Wissenschaftler im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens in der Great Barrington Erklärung. Diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, müssen besser geschützt werden (Focused Protection). Das will auch die Bundesregierung. Sie glaubt aber, dies mit einem Verhaltensappell an 83 Millionen Menschen erreichen zu können.
Es liegt an uns allen, ob wir es schaffen. Wenn 80 Millionen mitmachen, sinken die Chancen des Virus gewaltig.
Die Pandemie sei aus Sicht Spahns daher auch ein Charaktertest für die gesamte Gesellschaft, sagt der, der Hartz IV mit aktiver Armutsbekämpfung übersetzt. Das ist dick aufgetragen und dient vor allem dem Selbstschutz. Der Minister lenkt vom eigentlichen Regierungsversagen ab, indem er die gesamte Bevölkerung in die Verantwortung nimmt. Denn statt gezielt das Personal im Gesundheits- und Pflegebereich zu testen, um dort Infektionen auszuschließen, hat es der Gesundheitsminister zugelassen, bei Reiserückkehrern wahllos Abstriche vornehmen zu lassen und somit Kapazitäten und Ressourcen sinnlos zu verplempern. Erst jetzt kommt die Bundesregierung auf die Idee, ihre Teststrategie zu ändern und gezielter dort einzusetzen, wo sich auch die Risikogruppen befinden. Es ist weiterhin viel Aufklärungsarbeit nötig.
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.