Im Augenblick herrscht eine Haltung vor, die Zügel wieder anzuziehen. „Wir riskieren gerade alles, was wir in den letzten Monaten erreicht haben“, mahnte die Kanzlerin während ihrer Haushaltsrede Ende September. Sie meint damit die Erfolge bei der Bekämpfung der Pandemie. Merkel unterschlägt allerdings den gesamtgesellschaftlichen Schaden, der bereits angerichtet worden ist. Sie versteckt diese unangenehme Bilanz hinter einer simplen Modellrechnung über die Steigerung der Infektionszahlen bis Weihnachten und erhält dafür Applaus und Anerkennung. Da geht es um ein Wachstum, das eintreten könnte und deshalb Besorgnis auslöst. Der überdurchschnittliche Anstieg bei den Vermögen von Superreichen hat dagegen bereits stattgefunden. Die Ungleichheit in der Gesellschaft verschärft sich damit. Auch das ist ein sehr dynamischer Prozess. Doch über diese Corona-Party klagt in der Regierung niemand.
Wie der Spiegel berichtet, stieg das „Nettovermögen der Ultrareichen nach einem Einbruch zu Beginn der Corona-Pandemie bis Ende Juli auf 594,9 Milliarden Dollar. Bei der letzten Untersuchung (Stichtag März 2019) waren es 500,9 Milliarden Dollar. Der Club der Superreichen wuchs seitdem von 114 auf 119 Mitglieder.“ Das ist ein Anstieg um rund 20 Prozent. Bereitet das der Kanzlerin Sorgen? Offenbar nicht, obwohl das ja gerade ein wichtiger Punkt wäre, wenn man sich um den Haushalt und die zukünftige Ausgestaltung der Staatsfinanzen Gedanken macht. Denn den massiven Zugewinn an Vermögen muss der Staat nicht einfach hinnehmen, zumal dieses Wachstum auch durch öffentliche Förderprogramme erst ermöglicht worden ist. So profitieren ja gerade die deutschen Dollar-Milliardäre, die in den Bereichen Technologie und Gesundheitswesen engagiert sind.
Ungleichheitsvirus
Das nennt sich Umverteilung und ist kein neues Phänomen. Es geht auf den Neoliberalismus zurück, den der Armutsforscher Christoph Butterwegge in diesem Zusammenhang als „Ungleichheitsvirus“ bezeichnet. Dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet, ist bekannt. Neu ist die Corona bedingte Beschleunigung dieses Prozesses. „Unsozial ist keineswegs das als Sars-CoV-2 bezeichnete Virus, sondern eine reiche Gesellschaft, die ihre armen Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den Verwerfungen der Pandemie schützt“, sagt Butterwegge. Darin ist auch eine Kritik an der Regierungshaltung zu erkennen, die sich auf den Schutz von Risikogruppen beschränkt, ohne deutlich zu machen, worin die Risiken bestehen und vor allem, durch was sie verursacht werden.
Bisher galt wegen der niedrigen Lebenserwartung von Armen, die rund zehn Jahre unter der von Wohlhabenden und Reichen liegt, die zynische Faustregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Seit der Covid-19-Pandemie kann man sie abwandeln: Wer arm ist, muss eher sterben.
Armut spielt bei der Auseinandersetzung um die Corona-Politik überhaupt keine Rolle. Der Streit entzündet sich vielmehr an Teststrategien oder den AHA-Regeln. Diese Kritik ist durchaus berechtigt, zumal der Regierung seit Monaten nichts Besseres einfällt, um die amtlich definierte „Risikogruppe“ zu schützen. Die Corona-Warn-App oder das Lüften, die als zusätzliche Maßnahmen in den Katalog der Pandemiebekämpfung offiziell aufgenommen worden sind, kommen über einen rein symbolischen Wert kaum hinaus. Der Vorteil bei den sich wiederholenden Appellen, die Verhaltensregeln einzuhalten („Ich appelliere an Sie alle, halten Sie sich an die Regeln, die für die nächste Zeit weiter gelten müssen, geben wir alle als Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft wieder mehr aufeinander acht.“), liegt auf der Hand. Sie kosten nichts.
Andererseits vermeidet die Regierung eine Debatte darüber, ob vergleichsweise teure Entwicklungen, wie die Corona-Warn-App, die forcierte Impfstoffforschung oder die Subvention von Großkonzernen über den Vermögenszuwachs bei einigen wenigen hinaus, auch einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen haben. Also kurz gefragt. Werden Risikogruppen besser durch eine App, einen experimentellen Impfstoff oder durch Milliarden für die Lufthansa geschützt? Natürlich nicht, da man sonst keinen gesteigerten Wert auf die Einhaltung der AHA-Regeln legen müsste. Deren Akzeptanz ist wiederum nur durch ein Bedrohungsszenario dauerhaft sicherzustellen, das die Kanzlerin mit ihrer Modellrechnung wirkungsvoll und wiederum kostengünstig bedient. Eine Debatte darüber findet schließlich nicht im Haushaltsausschuss des Bundestages, sondern in den sozialen Netzwerken statt, wo sich Befürworter und Gegner der Corona-Politik erbittert gegenüberstehen.
Konkrete Maßnahmen, die mit Blick auf den Schutz von „Risikogruppen“ tatsächlich etwas brächten, wie beispielsweise eine dauerhafte Abkehr von Schwarzer Null und Schuldenbremse, die auch im Gesundheitssystem oder in der Pflege ihre Spuren hinterlassen haben, kosten Geld. Das Pflegefachkraftproblem ist beispielsweise nicht behoben worden, weil es jetzt einmalig einen Corona-Bonus für die Beschäftigten gegeben hat. Die dringend benötigten Kapazitäten und nachhaltigen Strukturen in der öffentlichen Versorgung lassen sich nicht dadurch gewinnen, indem man bei den gerade stattfindenden Tarifverhandlungen auf Nullrunden und Sparsamkeit pocht. Ein wirksamer Schutz erfordert also deutlich mehr, als Abstand, Hygiene und Alltagsmaske.
Genauer hinschauen
Die Bundesregierung weiß das und startet bereits die nächste PR-Kampagne. Gesundheitsminister Jens Spahn hat jüngst eine Pflegereform angekündigt, bei der es eine Verbesserung der Bezahlung von Pflegefachkräften wie auch eine Entlastung bei den Kosten geben soll, die die Pflegebedürftigen selbst zu tragen haben. Klingt gut, war aber alles schon einmal da. Stichwort: Pflegeschwur aus dem Jahr 2018 zwischen Gesundheitsminister Spahn, Familienministerin Giffey und Sozialminister Heil. Von dieser „Verschwörung“ ist nicht viel geblieben, außer der merkwürdigen Tatsache, dass die Springer-Presse immer noch als Verkündungsorgan für derlei wohlwollende Regierungsbotschaften dient, worauf Stefan Sell in seinem Blog hinweist. Der Sozialwissenschaftler setzt sich auch inhaltlich mit Spahns jüngstem Vorstoß auseinander. Ergebnis: „Da muss man wieder einmal genauer hinschauen.“ Oder anders ausgedrückt: Man muss näher ran. Abstand schützt in diesem Fall nur die Regierenden.
Die halten auch weiterhin mit Zustimmung des Bundestages an der epidemischen Lage von nationaler Tragweite fest, was bedeutet, dass der Gesundheitsminister wie auch die Landesregierungen Rechtsverordnungen erlassen dürfen, wenn sie der Auffassung sind, dass das der Pandemiebekämpfung dient. Da ist auch viel Unsinniges dabei, wie der Kasper aus München immer wieder beweist. Um ein abgestimmtes einheitliches Vorgehen zu ermöglichen, gibt es die Bund-Länder-Runden, die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK). Deren Ergebnisse sind allerdings dürftig, weil eben auch das Infektionsgeschehen in den Bundesländern höchst unterschiedlich ist und die Regierungschefs das entsprechend bewerten und nicht verpflichtet sind, einheitliche Vereinbarungen herbeizuführen oder sich daran zu halten. Das Ganze ist also ein Selbstbeschäftigungsapparat der Exekutive, den es nur deshalb gibt, weil die Parlamente gerade nichts mehr zu sagen haben. Es gibt nur überhaupt keinen Grund, dass sich die Abgeordneten weiterhin zurücknehmen und das Mandat ruhen lassen, das ihnen der Souverän übertragen hat.
Gerade was die Folgen der Corona-Politik anbelangt, braucht es mehr parlamentarischen Streit und einen differenzierteren Blick auf die Betroffenen. Wenn Merkel an die Menschen appelliert, sie müssten miteinander reden, erklären und vermitteln, meint sie ja nicht eine Debatte, deren Ausgang offen ist, sondern eine allgemeine Akzeptanz von Regeln, die die Regierung ohne Aussprache erlassen hat. Dabei legt der Ausnahmezustand die sozialen Ungleichheiten gnadenlos offen und verschärft sie. Oder anders ausgedrückt: „Die Notlage der Oberschicht äußert sich in der mangelnden Internetgeschwindigkeit im Home-Office, am unteren Ende der Verteilung herrschen hingegen Existenzängste.“ Darüber müssen die Parlamente breit diskutieren und vor allem eine Regierung stellen, die unter Solidarität nur das Tragen von Masken versteht. Das Gerede vom Schutz der „Risikogruppen“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es inzwischen noch gravierendere Klassenunterschiede gibt.
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OKT.
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.