Taugen Masken oder taugen sie nicht? Hängen steigende Fallzahlen mit steigenden Tests zusammen oder nicht? Ein bitterer Kampf um die Deutungshoheit ist entbrannt, ein Glaubenskrieg gewissermaßen, bei dem die Wissenschaft bloß als Geisel genommen wird. Geführt wird die Auseinandersetzung mit scharfen Worten zwischen den „Zeugen Coronas“ auf der einen und den „Covidioten“ auf der anderen Seite. Jede Partei hat eine oder mehrere passende Studien und Statistiken parat, obwohl man damit den Gegner gar nicht mehr überzeugen, sondern zur Unterhaltung der eigenen Filterblase einfach nur noch bloßstellen und verächtlich machen will. Und so geht es tagein, tagaus, immer wieder hin und her. Das ist ermüdend.
Worum geht es? Um steigende Fallzahlen. Für die einen ist das eine Katastrophe, für die anderen bloß ein Hintergrundrauschen. In Wirklichkeit aber, ist es zunächst einmal die Konsequenz aus dem, was die Verordnungen der Exekutive erlauben. Die Kanzlerin hatte um Ostern herum ein neues Wortungetüm kreiert: „Öffnungsdiskussionsorgien“. So als wollte sie sagen, lasst es lieber sein. Das war geschickt, da sie heute wie eine Mahnerin dasteht, auf die man nur hätte hören sollen. Da sie aber überhaupt nicht zuständig war, konnte sie sich diese Einstellung auch problemlos leisten. Die Landesregierungen waren andererseits dazu verpflichtet, zwischen Einschränkungen und Lockerungen eine laufende Abwägung vorzunehmen. Das gebietet die Verfassung. Nur das Risiko übernehmen, das wollten sie nicht. Es wurde vielmehr der Eindruck erweckt, die Rücknahme von Kontaktbeschränkungen ließe sich auch so organisieren, wenn sich die Bevölkerung weiterhin an einfachste Regeln hielte. AHA, Abstand, Hygiene und Alltagsmaske, lautet das Motto. Doch das ist eine Illusion.
Amtliche Unentschiedenheit
Es hätte von Anfang an klar kommuniziert werden müssen, dass Lockerungen nur mit einem Anstieg der Fallzahlen erkauft werden können. Es galt schließlich abzuwägen, ob der Schutz einzelner vor einer neuen Krankheit es rechtfertigt, einen immer größer werdenden gesamtgesellschaftlichen Schaden, der viel mehr Menschen betrifft, in Kauf zu nehmen. Stattdessen wurde behauptet, der Preis für Lockerungen könne auch durch das Tragen einer simplen Alltagsmaske entrichtet werden. Das ist Unsinn. Die Rücknahme weitgehender Kontaktbeschränkungen steht in den Regierungstexten, die Erlaubnis, reisen und auch in etwas größerer Runde wieder feiern zu dürfen, ist dort ebenfalls detailreich erklärt. Es ist albern, nun die Menschen dafür verantwortlich zu machen, dass sie diese Regelungen in Anspruch nehmen oder pragmatischer auslegen, als sie womöglich gemeint waren. Es geht nicht, die strengen Auflagen vordergründig abzumildern, ihre strikte Einhaltung aber weiter zu erwarten und diese Unentschiedenheit in seitenlangen Verordnungstexten mit juristischen Schachtelsätzen und Fußnoten zu verbergen. Das ist unlogisch und auch feige.
Die Maskendiskussion ist daher vollkommen belanglos, da es im Kern um das bewusste oder unbewusste Versäumnis der Regierung geht, deutlich zu machen, dass ein Anstieg der Fallzahlen unter gelockerten Bedingungen nun einmal nicht vermieden werden kann, vor allem auch dann nicht, wenn gleichzeitig erklärt wird, dass es einen 100-prozentigen Schutz nicht geben könne und die Gesellschaft als Ganzes noch lange mit dem Virus zu leben habe. Das erzwingt geradezu eine Entscheidung darüber, welche Interessen man mehr, welche weniger gewichtet und wie eine Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen erreicht werden kann. Schweden hat das so gemacht und wird für diese Haltung bis heute heftig kritisiert, hatte aber bei nüchterner Betrachtung immerhin einen klareren Plan als Deutschland, das sich um die Frage der Verhältnismäßigkeit permanent herumdrückte und stattdessen lieber Misstrauen in der Bevölkerung säte.
Erst war die Verdopplungszeit von 10 Tagen maßgeblich, dann waren es 14 Tage, bevor der Reproduktionsfaktor mit einem Wert von unter 1 in den Fokus rückte. Später waren es dann die 50 Fälle auf 100.000 Einwohner, dann wiederum 1000 Infektionen am Tag. Zuletzt wollte sich Gesundheitsminister Jens Spahn gar nicht mehr festlegen. Es gebe nicht diese eine Zahl, sagte er. Dieses Wischiwaschi-Gebahren schafft eben kein Vertrauen, sondern wahlweise empörte Ablehnung oder panische Hysterie. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich nun die aufgeheizte Stimmung, die schon längst zu einer Spaltung der Gesellschaft beigetragen hat. Diese Pandemie-Folge wird nur völlig unterschätzt. Lieber spottet man über Schwedens Fehler, die zweifellos bestehen und von verantwortlicher Stelle auch gar nicht geleugnet werden. Man ignoriert aber auch, dass das skandinavische Land eben keinen derartigen Zerfall seiner sozialen Strukturen zu beklagen hat, wie das in Deutschland bereits zu beobachten ist, wo man keine besseren Ideen mehr vorzuweisen hat, als eine drastische Verschärfung des Bußgeldkatalogs.
Rückkehr des Rohrstocks
Doch auch das wird das Infektionsgeschehen vermutlich kaum beeinflussen. Gerade den jungen Leuten sind die verschärften Strafandrohungen vollkommen egal, weil sie wegen der unklaren Haltung der Regierung, die lieber vor zweiten Wellen und neuerlichen Shutdowns warnt, eben nicht sicher sein können, dass es irgendwann einmal wieder besser wird und sie ihre ausgefallenen Abifeten oder was man sonst noch so in diesem Alter tut, je werden nachholen können. Als Lokaljournalist weiß ich, wie zum Teil deprimierend diese improvisierten Zeugnisübergaben vor ein paar Wochen waren, mit einer Mischung aus krampfhaft angewandter Corona-Konformität und hilfloser Betroffenheitsrhetorik von offizieller Stelle, die im Grunde aber nicht mehr als Durchhalteparolen zu bieten hatte. Die Schüler waren davon eher genervt, als irgendwie erleichtert, nun die Schulzeit hinter sich gebracht zu haben und einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können. Wie werden die wohl reagieren, wenn irgendwelche Provinzfürsten aus reiner Profilierungssucht davon sprechen, die Zügel nun wieder anziehen zu wollen?
Um nicht missverstanden zu werden. Es geht nicht darum, jung gegen alt auszuspielen, die einen leben und die anderen sterben zu lassen. Es geht darum, eine rationale Debatte über die Risiken zu führen, die man schon immer akzeptieren musste, damit ein Zusammenleben funktioniert. Im permanenten Katastrophenmodus zu verharren und dabei auf den Rohrstock als Zuchtinstrument zu vertrauen, ist kein besonders kluger Weg. Er führt zu Widerstand und auch zu absurden Situationen, wie einer chaotisch ablaufenden Testpflicht für alle Reiserückkehrer aus Risikogebieten. Manche stehen dann 15 Stunden im Stau oder erhalten ihr Testergebnis nie, nur weil ein Ministerpräsident aus Bayern den Mund zu voll genommen hat. Die schiere Menge ist halt weder analog noch digital zu bewältigen und nun gehen auch noch Reagenzien und Verbrauchsmaterialien zur Neige, wie u.a. Christian Drosten in einem Brief beklagt. Empfohlen wird daher ein Ende dieser kostenlosen Massentests.
Das hat man vorher natürlich nicht wissen können oder vielleicht einfach ausgeblendet, als man mit der Testpflicht der einen Hälfte der Lockdown-Elite, die daheim geblieben war, die Empörung über die andere Hälfte der Lockdown-Elite nehmen wollte, die trotz Corona in den Urlaub fuhr. Man könnte auch sagen, blinder Aktionismus führt zu nichts. Doch auch das ist eigentlich längst bekannt und damit ermüdend und belanglos zugleich. Um den Schutz von Risikogruppen oder gar die Gesundheit geht es bei diesem Empörungspingpong im Übrigen überhaupt nicht. Die Kosten für Pflege werden gerade zum sozialen Sprengstoff und eine erste Folgenabschätzung über Kollateralschäden im Gesundheitssystem durch Covid-19 zeichnet ein dramatisches Bild. Das Bundesverfassungsgericht urteilt, das Lebensmittel im Müllcontainer strafrechtlich geschütztes Eigentum sein können und für immer mehr Menschen wird das Wohnen in Städten unbezahlbar. Das sind doch die Probleme, für die es sehr viel dringender konstruktive Lösungsansätze braucht.
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AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.