Laxes Verhalten löst hin und wieder fatale Entwicklungen oder eine Katastrophe aus. Beispiel Fleischindustrie: Die Schlachthöfe profitieren seit Jahren von laxen Kontrollen, meldet die Süddeutsche Zeitung. Denn bereits in der Vergangenheit seien wiederholt zahlreiche Verstöße gegen Arbeitsschutzregeln aufgedeckt worden, wie eine kleine Anfrage der Grünen im Bundestag ergab. Konsequenzen hatte das aber keine, denn erst jetzt im Zuge der Corona-Pandemie werden die Kontrollen verstärkt und ein neues Arbeitsschutzkontrollgesetz auf den Weg gebracht, vermutlich weil die Unterstützung der Öffentlichkeit gerade besonders hoch ist. Da geht es also weniger um die Sache selbst, sonst würde man sich auch andere Branchen kritisch anschauen, als um Opportunismus, durch den die Versäumnisse der Vergangenheit vergessen gemacht werden sollen. Dieser Opportunismus gilt auch im Umgang mit der geltenden Verordnungspolitik, die den Menschen seit Monaten Einschränkungen auferlegt. Sie bleiben bestehen, weil der Rückhalt in der Bevölkerung dafür immer noch groß und der Mut der Regierung wie zu Beginn der Pandemie sehr klein ist.
Die niedersächsische Landesregierung hat es sich zu Beginn der Corona-Lockerungen im Mai positiv auf ihre Fahnen geschrieben, einen bunten und übersichtlichen Plan erarbeitet zu haben, der fünf Stufen in die teilweise Normalität enthielt. Unter anderem wurde da auch die Öffnung aller Freizeit- und Kultureinrichtungen mit Restriktionen für den Sommer (ohne konkretes Datum) angekündigt. Zwischenzeitlich hieß es dann, man arbeite an einem Zehnstufenplan mit offenem Ende irgendwann im nächsten Jahr. Jetzt werden Entscheidungen weiter aufgeschoben (alternativ auch hier) und Einschränkungen („In Niedersachsen wird es vorerst keine weiteren Corona-Lockerungen geben. Clubs und Diskotheken bleiben verschlossen, Fußballstadien ohne Zuschauer. Treffen sind auch weiterhin auf bis zu zehn Personen oder zwei Hausstände beschränkt.“) mit einer Begründung aufrechterhalten, die so in ihrer Pauschalität nicht haltbar ist. Die HAZ meldet:
Eigentlich war im Stufenplan der Landesregierung vorgesehen, in Niedersachsen ab 31. August weitere Corona-Lockerungen zu erlauben. Doch angepeilte Entscheidungen darüber seien auf Mitte September vertagt worden, sagte Regierungssprecherin Anke Pörksen am Montag. Sie begründete dies mit steigenden Infektionszahlen in Deutschland. Es gebe Hinweise darauf, dass dies mit laxeren Verhaltensformen zu tun habe – bei Reisen und auch privaten Feiern.
Quelle: HAZ
Diese Begründung ist ein Offenbarungseid für eine Regierung, die Reisen sowie private Feiern (bis zu 50 Personen) laut Corona-Regeln, für die immer noch rund 24 Seiten Fließtext benötigt werden, ausdrücklich erlaubt. Wenn eine Regierung selbst nicht in der Lage ist, obwohl mehrfach angekündigt, sich klarer verständlich zu machen, wie kann man da behaupten, die Bevölkerung halte sich nicht mehr an Regeln? Die pauschale Unterstellung lautet, dass Verhaltensformen zunehmend missachtet würden. Der Beweis: Steigende Fall- oder Infektionszahlen. Sie sind allerdings der einzige Indikator, auf den sich die Regierung beruft. Weder die Zahl der Erkrankten, noch die Zahl der schweren Verläufe oder gar die Zahl der Toten spielt eine Rolle, ganz zu schweigen von der Zahl der freien Betten in den Kliniken und Praxen, die zwischenzeitlich für mehr als 400.000 Mitarbeiter Kurzarbeit angemeldet haben.
Der Befund muss daher lauten. Die Regierung findet keinen Weg zurück in die Normalität und schiebt die Verantwortung lieber Teilen der Bevölkerung zu, die sich „Hinweisen“, aber nicht überprüfbaren Fakten nach, zu lax verhalte. Dabei sitzt die Exekutive wie das Kaninchen vor der Schlange, unfähig auch nur etwas anderes zu betrachten, als die Zahl der Infektionen. Und das Parlament tut bislang nichts, sondern stützt die anhaltende Verordnungspraxis, weil es eben gerade nicht sonderlich opportun ist, eine Gegenposition zu vertreten, bei der man ganz schnell und pauschal zum Covidioten gestempelt wird. Da zeigt sich allerdings eine erschreckende Parallele zum Beginn der Pandemie.
Sie war geprägt vom Zögern und Zaudern der Regierenden. Niemand wollte eine unpopuläre Entscheidung treffen. Daher wurde viel verharmlost, wo es eigentlich nichts mehr zu verharmlosen gab. Zum Glück las Herr Drosten eine alte Studie aus Amerika, die ihn mehr oder weniger zufällig erreichte. Darin wurde gezeigt, dass die Kombination aus Verbot von Großveranstaltungen und Schulschließungen bei der Eindämmung der Spanischen Grippe sehr hilfreich war. Er berichtete darüber in großer Krisenrunde mit der Kanzlerin und den Länderchefs. Eine Gelegenheit tat sich auf. Da man sich nun auf Drosten berufen konnte, er also hätte geschlachtet werden können, für den Fall, dass die Sache schief geht, rang man sich zu einem verschärften Lockdown durch. Der Rest ist Geschichte.
Jetzt, wo die Zustimmung zu den Maßnahmen in der Bevölkerung hoch ist, war es natürlich nicht in erster Linie Herr Drosten, der den Ausschlag gab, sondern die Regierenden selber, die sich dafür feiern lassen, stets richtig gelegen und gehandelt zu haben. Wie es dazu kam und welche konträre Haltung man am Anfang der Pandemie vertrat, die zum Kontrollverlust führte, spielt dagegen keine Rolle mehr. Entscheidend ist aber, dass sich der Mechanismus von damals auch jetzt wiederholt. Die Regierenden sind eben nicht entscheidungsstark, weil sie permanent objektiv abwägen und die Einschränkung von Grundrechten überprüfen, wie es ihr Auftrag ist, sondern hasenfüßig, weil sie einfach nur fürchten, an Ansehen zu verlieren. Und weil sie keinen Weg zurück in die Normalität finden können, verlängern sie lieber die Zeiträume von Stufenplänen, die so hübsch bunt und übersichtlich gestaltet sind, den Betroffenen aber, wie etwa Unternehmen und Beschäftigten in der Veranstaltungsbranche, überhaupt keine Perspektive mehr bieten.
Sie sagen klar, Wirtschaftshilfen griffen nicht und die Landesregierung verweigere den Dialog, um gemeinsam an Konzepten zu arbeiten. Das steht dann aber ganz am Ende eines Berichts. Denn als erstes müssen auch diese protestierenden Menschen erklären, dass sie keine Corona-Leugner sind, die ja inzwischen dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Erfolge bei der Bekämpfung des Coronavirus schwinden und ein enormer wirtschaftlicher Schaden entstanden ist oder noch entstehen wird. Diese Erzählung ist bequem, stimmt nur nicht, da für ausbleibende Wirtschaftshilfen und einen fehlenden Dialog mit den Betroffenen, die nicht mehr arbeiten dürfen, eben nicht die Covidioten verantwortlich sind, sondern die Regierung.
Bildnachweis: Screenshot NDR Website, 17.08.20
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.