Das Narrativ der kommenden Tage steht fest. Wenn es zu weiteren Einschränkungen des öffentlichen Lebens kommen sollte, liegt das an der Verantwortungslosigkeit „einiger weniger“ und nicht an Bundes- oder Landesregierungen, die zunehmend Schwierigkeiten damit haben, eine sinnvolle Ausstiegsstrategie zu formulieren und daher lieber an Maßnahmen festhalten, die sie für erfolgversprechend halten. Vor kurzem wies ich auf Überlegungen der Landesregierung Niedersachsen hin, einen Zehnstufenplan zu verfolgen, der bis ins nächste Jahr hinein reicht, wobei ein konkreter Termin für die Beendigung aller Vorordnungen nach Infektionsschutzgesetz auch dann noch offen bleibt. Aus dem Versprechen, Normalität wiederherzustellen, wird also vorerst nichts. Dafür braucht es gute Gründe.
Infektionszahlen, die auch jetzt, trotz minimaler Anstiege, immer noch niedrig sind, taugen da nur bedingt. Die Warnung vor einer zweiten Welle wirkt da schon eher. Mit diesem Szenario lässt sich eine zunehmende Lockerheit im Umgang mit Regeln anprangern, die es, Funfact am Rande, ohne Lockerungen durch Politik und Gerichte ja gar nicht geben würde. Doch auch hier hatte die Regierung bereits vorgebaut, als die Bundeskanzlerin im April mit dem Wortungetüm „Öffnungsdiskussionsorgien“ für Aufsehen sorgte. Das Erreichte drohe verspielt zu werden, hieß es damals wie heute. In dieselbe Kerbe haut jetzt auch der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
„Der Zwischenerfolg darf uns nicht leichtsinnig machen“, sagt ein sichtlich gut gelaunter Bundespräsident, der noch ein paar freie Urlaubstage vor sich hat. Doch ein Zitat lässt Aufhorchen.
Die Verantwortungslosigkeit einiger weniger ist ein Risiko für uns alle! Wenn wir jetzt nicht besonders vorsichtig sind, dann gefährden wir die Gesundheit vieler. Und wir gefährden darüber hinaus die Erholung unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft, unseres Kulturlebens.
Jede und jeder von uns steht jetzt in der Verantwortung, einen zweiten Lockdown zu verhindern. Denn es ist doch ganz klar: Eine weitere Phase des Stillstands würde uns alle noch viel härter treffen.Quelle: Bundespräsident
Kulturschaffende sollten genau lesen, was der Bundespräsident da sagt. Erstens habe es bereits eine Erholung des Kulturlebens gegeben. Da dürften sich viele verwundert die Augen reiben und fragen, ob sie die Meldung des statistischen Bundesamtes zum Bruttoinlandsprodukt kürzlich falsch verstanden oder grundsätzlich etwas verpasst haben und wieder deutlich mehr Zuschauer als bisher zugelassen sind, die mit ihren Eintrittsgeldern für Umsätze sorgen. Zweitens ist die Regierung, die die Regeln erlässt, zwar für positive Folgen in Wirtschaft und Gesellschaft verantwortlich, nicht aber für die negativen. Die haben ab sofort „einige wenige“ zu verantworten, die sich leichtsinnig verhalten und damit an der Gesundheit der anderen versündigen. Drittens ist sich der Bundespräsident natürlich über die noch härteren Folgen eines weiteren Lockdowns bewusst. Die Betroffenen können daher auf jeden Fall mit seiner Betroffenheit rechnen, sollen sich aber bloß nicht bei ihm oder der Regierung beschweren.
Ein solcher Spin hat natürlich Vorteile, weil sich auf diese Weise die Wut gegen die sogenannten „Covidioten“ prima steuern lässt, die jetzt ganz sicher mit ihren Regelbrüchen eine Normalisierung der Verhältnisse erschweren, wenn nicht gar verhindern. Sie sind aber letztlich nicht dafür verantwortlich, dass es nun eine tiefe Rezession geben wird. Sie tragen auch nicht die Schuld daran, dass die Perspektiven für Kulturschaffende, Kurzarbeitende und Menschen, die gerade ihren Job verloren haben, immer düsterer werden. Im Gegenteil. Die Regierung tut zu wenig, um die Folgen der Krise abzumildern. Bereits vor Corona hat sie in der Wirtschaftspolitik jämmerlich versagt, da sie ein absurdes Exportmodell in stoischer Überzeugung für überlebensfähig hielt.
Insofern hat der Bundespräsident durchaus recht wenn er sagt: „Der Weg zur Normalität, die wir uns doch alle wünschen, geht nicht über Leichtsinn, Sorglosigkeit und Ignoranz.“ Das stimmt. In der Wirtschaftspolitik ist ein Umdenken in Richtung Vernunft dringend erforderlich. Nur hat Frank-Walter Steinmeier das leider so nicht gemeint.
Bildnachweis: Screenshot aus Rede des Bundespräsidenten, gehalten am 3.8.2020, abgerufen auf der Website www.bundespraesident.de
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.