Ich finde nicht, dass Deutschland die Coronakrise sonderlich gut meistert. Im Gegenteil. Das gesellschaftliche Zusammenleben wird zunehmend auf eine harte Probe gestellt. Da gibt es die einen, nennen wir sie Lockdown-Elite, die sich materiell keine großen Sorgen machen müssen und daher jede Lockerung eher kritisch und eine zweite Welle bereits auf sich und die anderen zukommen sehen. Andere, ebenfalls aus der Lockdown-Elite, sehen es dagegen gelassener, verreisen bereits wieder, auch in sogenannte Risikogebiete, und werden jetzt nach ihrer Rückkehr mit einem kostenlosen Coronapflichttest beglückt, worüber sich der daheimgebliebene Teil der Lockdown-Elite wiederum furchtbar aufregt. Das sei irgendwie unsolidarisch, da für Reisen, die eigentlich nicht nötig seien, nun auch noch der Steuerzahler für Tests aufkommen müsse. Über diese zur Schau gestellten Leiden der Lockdown-Elite staunt der Grundsicherungsempfänger, der von Solidarität kaum etwas spürt.
Die nächste Sigmatisierungswelle läuft. Diesmal trifft es Reiserückkehrer, die sich angeblich total unvernünftig verhalten hätten, weil sie sich in ein Flugzeug setzten, um in einem anderen Land Urlaub zu machen. Man würde schließlich nicht jämmerlich zugrunde gehen, wenn man in diesem Jahr auf den gewohnten Auslandsaufenthalt verzichte. Urlaub in Pandemiezeiten sei ohnehin total abwegig, finden die Daheimgebliebenen. Eine seltsame Perspektive, denn sie erklären nicht, was im nächsten oder den kommenden Jahren anders sein soll. Sie gehen davon aus, dass diese Pandemie dann irgendwie verschwunden sein wird und das normale Leben einfach zurückkehren könnte. Das ist, Stand heute, kompletter Unsinn.
Erstens behauptet die Regierung, dass das Virus nicht verschwinden, sondern ein dauerhafter Begleiter sein werde. Mit Einschränkungen sei also auch künftig zu rechnen. Um mal ein Beispiel zu nennen, wie das praktisch aussehen könnte, hier die Überlegungen der niedersächsischen Landesregierung zur Rückkehr in den Normalbetrieb. Da war anfänglich mal von fünf Lockerungsstufen die Rede, inzwischen sind es zehn, wobei immer noch offen ist, ob es bei der letzten Stufe irgendwann im Jahr 2021 tatsächlich zu einem vollständigen Verzicht auf Auflagen kommen wird. Das hängt wiederum zweitens mit einem Impfstoff zusammen, dessen Existenz zur Grundbedingung für die Wiederherstellung von Normalität erklärt worden ist.
Ob der Impfstoff tatsächlich auch wirksam ist oder nicht, spielt dagegen keine Rolle. Wäre es anders, würde man das Normalitätsversprechen keinesfalls an etwas knüpfen, das realistischer Weise Jahre der Forschungsarbeit benötigt. Stattdessen nimmt man an, dass eine extreme Verkürzung dieser Zeit möglich ist und tut so, als sei ein wirksames Mittel bereits kurz vor der Zulassung. Das ist unseriös und vor allem sehr riskant, da klinische Studien von Impfkandidaten, die immer nach denselben Standards ablaufen, eben mit Blick auf Risiken und Nebenwirkungen niemals abgekürzt werden sollten. Gleichwohl scheint es inzwischen aber vertretbar zu sein, diese sinnvollen Stufen zur Gewinnung von Daten und Erkenntnissen zu überspringen. Die daheimgebliebene Lockdown-Elite klammert sich nun an die Vorstellung, dass mit dieser Strategie der Spuk mittelfristig, vielleicht ja schon im nächsten Jahr beendet werden könne und fordert daher für die Gegenwart weiterhin Zurückhaltung und Geduld von allen anderen ein.
Sie nennen das dann Solidarität, was der pure Schwachsinn ist, da die Ausgaben des einen immer auch die Einnahmen des anderen sind. Wird das eine gestrichen, fällt auch das andere weg und diejenigen, die nicht zur Lockdown-Elite zählen, schließen ihre Unternehmen oder verlieren ihren Arbeitsplatz und treffen sich dann ziemlich sicher beim Jobcenter wieder, da Einnahmeausfälle oder der Unternehmerlohn leider nicht förder- oder zuschussfähig sind, wie gerade die Regierung betont, die maßgeblich von Kreisen der Lockdown-Elite getragen wird. An der Haltung der jammernden Daheimgebliebenen ist also nichts Solidarisches dran, sie ist schlichtweg pervers und rückt, damit es nicht so auffällt, den Gesundheitsschutz und die Solidargemeinschaft in den Mittelpunkt, die für die Unvernunft einzelner zahlen muss. Das hat wiederum den Gesundheitsminister dazu gebracht, nun im Eiltempo verpflichtende Tests für Reiserückkehrer zu veranlassen, obwohl doch das Reisen an sich gar nicht verboten ist.
Das gefällt natürlich dem reisenden anderen Teil der Lockdown-Elite nicht. Dort wedelt man mit dem Grundgesetz und meldet an, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2, Abs. 2 Grundgesetz betroffen sein könnte. Das ist lustig, denkt sich der Hartz IV-Empfänger, für den das Sanktionsregime aus Vor-Coronazeiten schon längst wieder gilt, trotz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, dass die Sanktionspraxis generell eher in Frage stellt als billigt. Aber wie sagte Jens Spahn, als er noch der kommende Gesundheitsminister und potentielle Merkel-Nachfolger war? Mit Hartz IV habe jeder das, was er zum Leben brauche. Die Sorgen und Leiden dieser Menschen interessieren die Lockdown-Elite nicht. Da verhalten sich Reisende wie Nichtreisende immer noch sehr solidarisch.
Bildnachweis: Screenshot von www.tagesschau.de, abgerufen am 28.07.2020
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.