Als der EU-Gipfel am Montagmorgen vor dem Scheitern stand – nicht wirklich, wie sich herausstellte – schrieb ich in einer ersten Einschätzung, dass das Gefeilsche in Brüssel ja nur für Journalisten der jeweiligen Länder aufgeführt werde. Und so ist es auch diesmal wieder. Die Ergebnisse sind weniger interessant als die Frage, wer denn nun Gewinner oder Verlierer sei. Letztere gibt es naturgemäß keine, mit Ausnahme der EU-Bürger, über die aber vorsichtshalber gar nicht erst geschrieben wird. Was zählt ist der Deal, sonst nichts. Unverschämt viel abgeräumt hat dabei auch Deutschland. Doch die Verhandlungsführerin wird als umsichtige, dem Vernünftigen und Guten zugeneigte Vermittlerin präsentiert, die sich eher zurückgehalten habe. Doch ein Schlafschlumpf war sie nicht.
Die FAZ stellt in ihrem Bericht die Frage „Sehen so Sieger aus?“ Es folgt eine Liste von Beteiligten, bei denen man feststellt, dass sie alle irgendwie gewonnen haben. Da man dem Ergebnis nicht ganz traut, fragt man lieber den Leser nach seiner Einschätzung. Das wirkt hilflos und nicht sehr souverän. Schöner wäre eine Antwort der Journalisten, mit der man etwas anfangen kann. Stattdessen wird erklärt, dass ein typischer EU-Kompromiss herausgekommen sei, der jedem der Beteiligten die Möglichkeit biete, sich als Sieger darzustellen. Aber manche sind es etwas mehr als andere, schiebt die FAZ gleich nach, um zu zeigen, dass doch etwas Restanalysefähigkeit vorhanden ist.
Erstaunlich ist (oder auch nicht), dass die Kanzlerin weiter unten auftaucht und dort als bescheiden in ihren Forderungen gezeichnet wird, ergänzt um die ehrenwerte Rolle als Vermittlerin mit großem Herz für die Schwächeren. Ein schönes Bild für eine Akteurin, die den dicksten Beitragsrabatt (die FAZ schreibt einen höheren Rabatt) zum künftigen EU-Budget unter allen Nettozahlern herausgehandelt hat. Dabei saß Merkel immer bei Macron und nicht bei Hardliner Rutte am Tisch. Ist doch komisch? Nicht für die FAZ und andere Medien, die sogar das Märchen von den dauerzahlenden Deutschen erneut verbreiteten, um Hass und Vorurteile zu schüren. Dabei überweist Deutschland in den kommenden sechs Jahren – und da müssen die schäumenden Deppen von der AfD und Co. jetzt ganz stark sein – rund 22 Milliarden Euro weniger nach Brüssel.
Aber zum Glück gibt es ja noch die „Lügenpresse“, die derlei Details gern unterschlägt, um dem Image der Kanzlerin als glanzvoller Europäerin keinen Kratzer zuzufügen. So können die Schreihalse in den sozialen Netzwerken auch weiterhin ihren dumpfen Hass gegen Merkel pflegen, die angeblich deutsche Steuergelder anderen Ländern in den Rachen wirft. Nur ist es ganz anders. Der Wiederaufbaufonds, der nun beschlossen worden ist, sieht Zuschüsse und Kredite vor, die allesamt an Bedingungen geknüpft sind. Weder der Wirtschaftsflügel der Union, noch die Rassisten der AfD müssen sich also um Geld sorgen, das ihnen gar nicht gehört. Denn per Anleihe werden die Mittel aus dem Nichts geschöpft. Nur zurückgezahlt wird nach Plan in barer Münze und das heißt in Form von Primärüberschüssen in den jeweiligen Haushalten.
Die Beiträge zum EU-Haushalt spielen da ebenfalls eine Rolle, da es die EU-Kommission ist, die erstmals gemeinsame Anleihen ausgeben und einen Tilgungsplan festlegen wird. Da Deutschland und die anderen dreisten vier, Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark üppige Beitragsrabatte verhandelt haben, müssen notgedrungen die übrigen EU-Staaten für die Lücken im Budget, aus dem auch die Tilgungsraten entnommen werden, aufkommen. Jens Berger schreibt dazu auf den NachDenkSeiten.
Das Budget steht fest und wenn fünf Staaten deutlich weniger bezahlen müssen, muss der Rest natürlich diese Finanzlücke ausgleichen. So ist es nun an Staaten wie Spanien, Italien und Frankreich, also den Staaten, deren Volkswirtschaft durch die Corona-Maßnahmen am härtesten getroffen wurde, künftig mehr zu bezahlen, während ausgerechnet die Staaten, deren Volkswirtschaft von den Maßnahmen noch am wenigsten in Mitleidenschaft gezogen wurde, einen fetten Rabatt bekommen. Geiz ist geil? Er zahlt sich zumindest aus und ist auf EU-Ebene nach wie vor die oberste Leitlinie.
Quelle: NachDenkSeiten
Diesen Geiz werden die Menschen in den Ländern unmittelbar zu spüren bekommen und entsprechend reagieren. Auf der Straße, an der Urne, alles ist denkbar. Die dreisten fünf haben hingegen kaum etwas zu befürchten. Da sie sich selbst als rechte Hardliner geben, um den Wählern im eigenen Land zu gefallen, werden sie ihre Machtbasis zunächst einmal stabilisieren. In den Niederlanden wird im Frühjahr 2021 neu gewählt. Rutte dürfte mit dem Deal sicher bei seinen Landsleuten punkten. Und Merkel, die sich selbst als umsichtige Diplomatin verkauft (für sie zähle, dass man sich am Schluss zusammengerauft habe), steht ja auch so an der Spitze aller Beliebtheitsskalen. Klar ist aber, derzeit könnte die Union auch ohne Kanzlerkandidaten antreten, sie würde haushoch gewinnen.
Verloren ist dagegen Europa, wenn umgesetzt würde, was die Staatschefs vereinbart haben. Denn Staaten wie Italien, Spanien oder Frankreich, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind und die herbsten wirtschaftlichen Einbrüche zu verkraften haben, werden in den kommenden Jahren kaum die Überschüsse erzielen können, um den erwarteten Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Folglich wird dann auch das Wirtschaftsmodell der dreisten Nordländer, die sich immer noch einseitig auf Leistungsbilanzüberschüsse stützen wollen, vollends in sich zusammenbrechen müssen. Die Sieger von heute sind damit in Wahrheit die neoliberalen Totengräber von gestern, die nicht damit aufhören können, ein hoffnungsvolles Morgen weiter zu erledigen.
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JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.