Cui Bono, lautet eine bekannte Frage. Die Kampagne der Bild-Zeitung gegen Drosten und die dadurch entfachte Debatte dienen doch ganz klar einem Zweck. Die Regierung, der in Umfragen eine gute Arbeit bescheinigt wird, obwohl sie viele Missstände zu verantworten hat, soll weiter geschützt und abgesichert werden. Für das wachsende Unbehagen muss also jemand anderes Verantwortung tragen. Nur wieso sollte Herr Drosten eigentlich Schuld daran sein, dass die Kindergärten und Schulen immer noch geschlossen sind? Das war eine politische Entscheidung, die, und das wird immer vergessen, die Aussagen von Drosten bewusst in Geiselhaft nahm.
Wir erinnern uns an die Woche im März, als die Landesregierungen nach einem Treffen im Kanzleramt bekanntgaben, dass Schulen und Kitas geschlossen würden. Ausnahmslos jeder verantwortliche Politiker bezog sich bei seiner Entscheidung auf die Aussagen Drostens, die sich plötzlich geändert und zu einem Umdenken in den Staatskanzleien geführt hätten. Denn bis zur berühmten Berliner Runde am 12. März hielten alle Regierungen Schul- und Kitaschließungen für überzogen. Schon damals war klar, dass die politisch Handelnden keine Verantwortung für den Fall übernehmen wollten, dass die Sache schief läuft.
Man habe ja nur das gemacht, was der Virologe, von manchen schon „Star-Virologe“ genannt, dringend empfohlen hat. Beschwert euch also bei ihm, so die unterschwellige Botschaft. Denn viele Landesregierungen wurden am Freitag, den 13. März kritisch auf ihren Kurswechsel angesprochen. Der Vorwurf, beim Krisenmanagement versagt zu haben, stand sehr deutlich im Raum. Doch dank der „Drosten war’s“ Ausrede, der seine Meinung nach Lektüre einer Studie zur Spanischen Grippe geändert hatte, konnte die handelnde Politik ihren Kopf ein Stück weit aus der Schlinge ziehen.
Die Bezugnahme auf Drosten erfüllte daher noch eine weitere wichtige Funktion, die dem Virologen selbst zunächst nicht klar sein konnte, weil er möglicherweise das politische Alltagsgeschäft nicht kennt. Als Chefberater der Regierung nahm er an der Seite der Entscheider Platz. Die Politik gab ihm viel Fläche, machte ihn buchstäblich zu einem von ihnen und sendete damit das deutliche Signal, dass sie ihre Entscheidungen vielleicht nicht ausschließlich, aber doch sehr stark auf das Urteil Drostens stützen werde. Während dem Virologen der Charité damit eine Zielscheibe umgehängt wurde, nahm sich die eigentlich handelnde Politik elegant selbst aus der Schusslinie.
Sie muss sich bis heute nicht dafür rechtfertigen, dass die Entscheidung für den Lockdown eigentlich viel zu spät kam. Der Bayer Söder darf sich als der größte Krisenmanager aller Zeiten abfeiern lassen, obwohl es gerade seiner verantwortungslosen Regierung im Februar und März zuzuschreiben ist, dass es in Bayern die meisten Infektionen gibt. Der Bundesgesundheitsminister wird ebenfalls geschont, obwohl er den bis heute bestehenden Mangel an Schutzausrüstung in Krankenhäusern, Arztpraxen und Pflegeheimen direkt zu verantworten hat. Viele Landesregierungen hingen förmlich an den Lippen Spahns. Noch eine Woche vor dem Lockdown wurde verharmlost. Das Virus sei ja gar nicht so gefährlich und einschneidende Maßnahmen oder gar generelle Verbote überzogen.
Man zögerte zunächst notwendige Entscheidungen hinaus, weil man fürchtete, die Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Heute ist es so, dass die Exekutive mit dem Anordnen nicht mehr aufhören kann, weshalb die ersten Klagen von oppositionellen Parteien vor den Staatsgerichtshöfen anhängig sind. Das Parlament fühlt sich schlecht unterrichtet, darf gar nicht mitreden und ist so gesehen weitgehend ausgeschaltet. Dieser Zustand muss beendet werden. Doch was ist vertretbar. Wieder kommt Drosten ins Spiel, auf den sich die Politik bei ihren Entscheidungen und Lockerungsplänen beruft. Möglicherweise wird der Wissenschaftler aus Berlin auch noch für die schwere wirtschaftliche Krise verantwortlich gemacht, nur um zu erreichen, dass der Glaube an das neoliberale Dogma erhalten bleibt.
Die Kampagne gegen Drosten mit der Bild-Schlagzeile „Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht“ dient so gesehen den Regierungen, die es gerne haben, wenn andere für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden. Nicht ihr Handeln wird kritisiert, sondern der wissenschaftliche Berater, auf den sich die Entscheider berufen. Drosten ist aber nicht Teil der Regierung, wie er selbst immer wieder zu vermitteln versuchte. „Ein Wissenschaftler ist kein Politiker, die Wissenschaft hat kein politisches Mandat.“ Die Frage ist also, welchen Anteil die Medien wie auch die Politik als Ganzes daran haben, dass Drosten so zur Zielscheibe hat werden können. Die Bild-Kampagne ist nicht die Ursache, sondern bloß ein Symptom.
Bildnachweis: geralt / Pixabay
MAI
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.