Etwa 70 Prozent der Italiener haben mittlerweile ihr Vertrauen in die EU verloren, rund 50 Prozent halten sogar einen Austritt aus der Gemeinschaft für das Beste. Das sind erschreckende Zahlen, doch die deutsche Seite palavert immer noch vom europäischen Zusammenhalt und hält eigene Vorschläge zur Bewältigung der Coronakrise für einen großen solidarischen Beitrag. So erzählte es der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus, am Dienstag im Bundestag. Er irrt sich gewaltig.
Die große Solidarität der Deutschen werde immer in Frage gestellt, beklagte sich Brinkhaus. Doch die Opferrolle steht ihm überhaupt nicht, auch deshalb nicht, weil er kaltschnäuzig lächelnd aufzählt, welche enormen Beiträge Deutschland für Europa angeblich schon geleistet habe und immer noch leiste. So sei man nicht nur der größter Nettozahler in der Europäischen Union, sondern trage auch die Hauptlast der Rettungspakete für den Euro sowie die Hauptlast bei Flucht und Migration.
So erweckt Brinkhaus den Eindruck, Deutschland finanziere allein die gesamte Union. Dabei ist Italien ebenfalls Nettozahler und ein verlässlicher dazu. Brinkhaus tut ebenfalls so, als sei die Regierung in Berlin völlig schuldlos daran, dass Rettungspakete überhaupt geschnürt werden müssen. Doch bei allen Krisen, denen man sich laut Brinkhaus so vorbildhaft annehme, fehlt der Kontext. Das ist die deutsche Arroganz, die den Süden Europas immer wütender macht. Der französische Präsident Macron hat der Financial Times zuletzt ein bemerkenswertes Interview gegeben. Darin bringt er das Problem in einem Absatz auf den Punkt. Er sagte:
They’re in favour of Europe when it means exporting to you the goods they produce. They’re for Europe when it means having your labour come over and produce the car parts we no longer make at home. But they’re not for Europe when it means sharing the burden.
Mit anderen Worten, Staaten wie Deutschland profitieren gern von EU und Eurozone, etwa wenn es darum geht, zu hohe und damit regelwidrige Leistungsbilanzüberschüsse einzufahren, die nur möglich sind, indem man auch Arbeitslosigkeit in die jeweiligen Partnerländer exportiert. Auf der anderen Seite hält man dann aber nichts davon, die dadurch entstehenden Lasten fair zu verteilen. Im Gegenteil. Für Politiker wie Brinkhaus ist Deutschlands Wettbewerbsposition ehrlich erreicht. Die anderen waren eben nicht so gut und benötigen nun Hilfe, die Deutschland wiederum gewähren kann, aber eben nicht bedingungslos.
Prinzip der Konditionalität
Um diese Position zu verstehen, lohnt noch einmal ein Rückblick ins Jahr 2015. Da ist es dem damals noch kritischen Tilo Jung in der Bundespressekonferenz auf erfrischende Art gelungen, dem gepredigten Prinzip der Konditionalität die seriöse Maske herunterzureißen.
Bis heute hat sich an der idiotischen Haltung Deutschlands, was die Gewährung sogenannter Hilfen anbelangt, nichts geändert und man wundert sich ernsthaft darüber, nicht mehr als Freund im Ausland wahrgenommen zu werden. Doch statt Aufklärung zu betreiben, ist für große Teile der deutschen Medienöffentlichkeit klar. Die Russen oder die Chinesen müssen für die sichtbare Spaltung Europas verantwortlich sein. Was für ein Irrsinn. Historiker Adam Tooze sagt im taz-Interview:
Es ist den Deutschen nicht klar, wie viel Schaden in der Eurokrise angerichtet worden ist. Von 2008 bis 2018 hat sich die wirtschaftliche Kluft zwischen Deutschland und Italien enorm vergrößert: um 8.000 Euro pro Jahr und Kopf beim Bruttosozialprodukt. Das ist ein Desaster für die italienische Gesellschaft.
Man ging ja noch einen Schritt weiter und griff sogar in Regierungsbildungsprozesse ein. Egal wie Parlamentswahlen auch ausgingen, eine Zusammenarbeit gab es nur, wenn die Vorgaben aus Brüssel und Berlin nicht infrage gestellt wurden. Die haben wiederum dazu geführt, dass in den Gesundheitssystemen massive Einsparungen vorgenommen worden sind.
Rom, August 2011: In das Postfach der italienischen Regierung flattert ein Brief der Europäischen Zentralbank. Was dem Brief folgen wird, ist eine drastische Kürzungswelle, die auch das Gesundheitswesen erfasst. Die EZB erklärt in ihrem Schreiben, dass Schutz vor steigenden Zinsen auf italienische Staatsanleihen nur unter der Bedingung harter Einschnitte gewährt würde. Sie hatte in der Troika die EU-Kommission und den Internationalen Währungsfonds hinter sich. Die italienische Regierung führte diese Einschnitte durch – in der Folge sank die Anzahl von Krankenhäusern im Land um 15 Prozent. Die Krise des Gesundheitssystems in der aktuellen Pandemie ist eine Folge dieser Austeritätspolitik.
Quelle: der Freitag
Der gute Europäer
Man könnte es auch noch schärfer formulieren. Die deutsche Vorstellung von Konditionalität, also Hilfen an absurde Bedingungen zu knüpfen, tötet Menschen. Einem Ralph Brinkhaus muss das bewusst sein, wenn er in dieser Tradition einfach weitermacht. Der Fraktionsvorsitzende der Union meint aber auch, es hätte den Anschein, man sei nur dann ein guter Europäer, wenn man der Vergemeinschaftung von Schulden zustimme. Das ist nun völlig absurd, da die EZB unter einer weitgehenden Auslegung ihres Mandates schon längst massiv Staatsanleihen aufkauft und damit sicherstellt, dass alle Euroländer ihre Ausgaben auch finanzieren können. Die Diskussion um Eurobonds ist daher total überflüssig, da es sie längst gibt.
Als gute Europäer müssten sich Politiker wie Brinkhaus zunächst einmal entschuldigen, bei den Italienern wie auch bei den Franzosen, denen man eine Grenzschließung zumutet, damit sich der deutsche Innenminister auch mal wieder profilieren kann. Mehr Sinn hatte die Aktion in einer Region nicht, deren Wunde seit dem zweiten Weltkrieg durch ein enges Zusammenwachsen auf beiden Seiten so gut verheilen konnte. Wie dumm müssen eigentlich deutsche Politiker sein, um solche Entscheidungen zu treffen und dann hinterher auch noch über europäische Solidarität zu dozieren?
Die Schlüsselpositionen in Europa sind übrigens durch Deutsche besetzt. Sie hatten es aber nicht besonders eilig im Kampf gegen das Virus, was viele Probleme erst verschärfte. Nun finden sie aber, dass sie einen erfolgreichen Weg, erfolgreicher als alle anderen, beschritten haben. Sie lernen es wohl nimmermehr.
Bildnachweis: Screenshot, phoenix, 21. April 2020
APR
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.