Da das Jahr mit einem albernen Skandal um ein Kinderlied zu Ende geht, erübrigt sich jedweder Rückblick auf die vergangenen 12 Monate. Die Schwelle für anlasslose Empörung liegt mittlerweile sehr niedrig, vermutlich weil auf den „grapschenden Ausländer“ an Silvester kein Verlass mehr ist. Das gilt nicht für die Redaktionen, die chronisch unterbesetzt, jeden Pups aus den sozialen Netzwerken zum medialen Großereignis aufblasen. Dabei gibt es wichtigere Themen.
Die Folter an Julian Assange zum Beispiel. Sie interessiert nur kaum jemanden, obwohl er 23 Stunden am Tag allein in einer Zelle verbringen muss. Angela Richter schrieb im Freitag:
Während Dissidenten aus China, Russland oder der Türkei von westlichen Journalisten wie Fetische angehimmelt werden, hält man sich bei heimischen Dissidenten wie Assange und Chelsea Manning vornehm zurück.
Es sei beschämend, dass diese Heuchelei des freien Westens inzwischen von östlichen Dissidenten thematisiert werden muss, so Richter weiter. Sie hat recht. Die Medien haben sich in dieser Angelegenheit, bei der es um nichts geringeres als die Wahrung von Grund- und Menschenrechten geht, in diesem Jahr weitgehend als Totalausfall erwiesen. Die notwendige Aufklärungsarbeit leisteten dagegen alternative Medien wie die NachDenkSeiten.
Syrien ist auch so ein Beispiel, ein Land, das dem neunten Kriegsjahr entgegengeht. Die Aufklärung darüber läuft aber in etwa so. Der Diktator Assad lässt mit Unterstützung der Russen die Provinz Idlib bombardieren, Zehntausende sind auf der Flucht, wie Bilder belegen, die fleißig von den Qualitätsjournalisten verbreitet werden. Das Feindbild soll deutlich werden, denn wir sind ja die Guten. Das Portal Infosperber erklärt aber anhand einer Nachrichtensendung des ZDF, wie mit wirkungsvoller Montage von Bild und Text falsche Informationen verbreitet werden.
Da wiederholt sich das Aleppo-Syndrom. Jedes Mal wenn die vom Westen und den Golfmonarchien finanzierten und bewaffneten «Rebellen» vor einer Niederlage stehen, erhebt sich ein grosses Lamento und die Warnung vor einer humanitären Katastrophe.
The same procedure as every year
Die Empörungsschwelle ist vor allem auch dann sehr niedrig, wenn es um die bösen Russen geht. Da werden schon mal Diplomaten vorsorglich ausgewiesen, weil sich die russischen Behörden in einem Mordfall der Zusammenarbeit verweigern würden, um die von deutscher Seite aber erst zwei Tage nach der Ausweisung offiziell ersucht worden ist. Der Anti-Spiegel hat das diplomatische Gehampel im mysteriösen Tiergarten-Mord noch einmal nachgezeichnet und festgestellt, dass die Reaktion auf den weitgehend aufgeklärten Khashoggi-Mord in der Türkei merkwürdigerweise eine ganz andere war und ist.
Übrigens dürfen die Amerikaner im Irak und in Syrien auch bombardieren. Sonderlich empörend finden das die westlichen Journalisten aber nicht, wohl aber die Iraker, die gerade die US-Botschaft in Bagdad stürmen. Der deutsche Medienkonsument muss sich aber verwundert fragen, warum das so ist. Denn in der Regel werfen die Amerikaner ihre Bomben ja nur gezielt auf Stellungen von Milizen ab und auch nur aus Notwehr, weil sie vorher von dort attackiert worden waren. Folglich handelt es sich nach deutscher Lesart bei der militärischen Operation um einen irgendwie legal klingenden Vergeltungsangriff, der von „deutlichen Worten aus Washington in Richtung Teheran“ begleitet wird.
Syrer und Russen fliegen dagegen offenbar wahllos Luftangriffe, die hunderttausende Menschen auf die Flucht zwingen und vor allem Kinder zu Opfern machen. Das ist nicht einmal gelogen, weil im Krieg immer Menschen getötet, verletzt oder zur Flucht gezwungen werden. Es wäre daher klug, alles zu tun, um Kriege oder einen weiteren Anstieg der Rüstungsexporte und der Militärhaushalte zu vermeiden. Hilfreich wäre auch mehr Aufklärungsarbeit. So ist in den Medien zwar von „Rebellen“ die Rede, deren Rolle in dem Konflikt bleibt aber unklar. Sie müssen daher im Grunde Unbeteiligte sein, statt Extremisten, die eine ausgehandelte Waffenruhe gebrochen haben. In den Augen westlicher Medien kann diese Darstellung allerdings nur russische Propaganda sein.
Es beginnt immer mit dem ersten Bier
Was ganz sicher nicht zur Stimmungsmache zählt, ist die Tatsache, dass man die Silvesterfeierlichkeiten immer mit dem ersten Bier oder einem anderen Getränk seiner Wahl beginnt, nie mit dem Nullten. Insofern mögen nach Mitternacht zwar die Zwanziger Jahre ihren Anfang nehmen, nicht aber ein neues Jahrzehnt, wie vielfach falsch berichtet, aber auch von der Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache angedeutet wird. Das neue Jahrzehnt startet erst 2021. Dies nur als Hinweis für all diejenigen, die mit der Logik im nächsten Jahr nicht mehr so häufig auf Kriegsfuß stehen wollen. Bis dahin trinken Sie viel, um die bittere Wirklichkeit abseits von Logik und Vernunft vielleicht ein wenig besser ertragen zu können.
Bildnachweis: Mabel Amber, still incognito… auf Pixabay
DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.