Die Kommentierung des jüngsten Urteils der Karlsruher Richter zur Sanktionspraxis nach dem SGB II ist belustigend. Da wird erleichtert zur Kenntnis genommen, dass das Bundesverfassungsgericht immerhin das Prinzip des Förderns und Forderns anerkannt habe. Schließlich wäre diese, offenbar sehr heilige Konstruktion, bei der es auch um viele Steuergelder gehe, wie immer betont wird, nicht mehr haltbar, wenn es keinerlei Sanktionsandrohung mehr gebe. Das ist richtig, nur warum sollte das von irgendeiner Bedeutung sein? Hinter der Vorstellung des Förderns und Forderns steckt ja der absurde Gedanke, dass viele Menschen es attraktiv finden könnten, arm zu sein. Aber das ist nicht das einzige Problem. Das Prinzip des Förderns und Forderns ist eigentlich immer nur ein Prinzip des Forderns. Über die Seite des Förderns wird nie nachgedacht, übrigens auch nicht vom 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts, dessen Vorsitzender Stephan Harbarth völlig weltfremd von Brücken in die Erwerbsarbeit sprach, die es aber gerade für Hartz IV-Empfänger kaum gibt.
Verrohung der Sprache
Ein gewisses Maß an Anstrengung einzufordern sei unabdingbar, heißt es etwa hier. „Bekommen die Betroffenen einen zumutbaren Job angeboten, müssen sie diesen annehmen. Um sicherzustellen, dass der Staat das durchsetzen kann, braucht es das Mittel der Leistungskürzung.“ Das klingt irgendwie logisch, ist aber schon in der Wortwahl grundfalsch und damit ein sehr schönes Beispiel für die wirkliche Verrohung der Sprache, die in neoliberalen Kreisen gern übersehen wird. Ein Angebot, das man annehmen muss, ist schlicht kein Angebot, sondern eine Weisung oder auch eine Anordnung, deren Missachtung man durchaus mit einer Strafe belegen könnte. Es müsste daher richtig heißen, dass ein zumutbarer Job zugewiesen, aber nicht angeboten werde. Diese Formulierung klingt nur etwas weniger harmonisch, weil sie die Machtverhältnisse noch viel klarer benennt. Doch bliebe es beim unverfänglichen Angebot, das aber unter Androhung einer Leistungskürzung angenommen werden müsse, handelt es sich schlicht um eine Erpressung. So etwas Furchtbares kann die Autorin aber sicherlich nicht gemeint haben, auch wenn es in der Überschrift „Der Staat braucht ein Druckmittel – auch gegen die Schwachen“ heißt.
(Was ist denn das Druckmittel gegen die Starken? 6000 Euro Kaufprämie ohne Bedürftigkeitsprüfung für den Erwerb eines Elektroautos?)
Doch dann kommt eine weitere bemerkenswerte Stelle in dem Kommentar: „Dabei geht es nicht nur um diejenigen, die tatsächlich sanktioniert werden. Es geht auch um den Abschreckungseffekt: Wer weiß, dass ihm Einbußen drohen, vermeidet diese Situation womöglich von vornherein.“ Der Abschreckungseffekt. Die Autorin bringt, ohne es wahrscheinlich zu wissen, den eigentlichen Sinn dieser unwürdigen Hartz IV-Gesetzgebung auf den Punkt. Sie soll auf die disziplinierend wirken, die sich entweder noch in Arbeit oder bereits in Arbeitslosigkeit befinden. Tue nichts, was an dieser Situation etwas ändern könnte, sei sie auch noch so prekär oder verwerflich, gehorche in jeder Lebenslage. Aus der Formulierung geht aber auch hervor, dass es gar kein funktionierendes Förderprinzip geben kann. Denn wäre die Förderung, also die Vermittlung in Arbeit, erfolgreich, bräuchte es doch keinen Abschreckungseffekt. Doch über die Seite der Förderung oder die angeblichen Brücken in die Erwerbsarbeit wird gar nicht nachgedacht. Sie werden einfach erfunden oder beschönigt. Dabei entlarvt sich die verrohte Hartz IV-Sprache selber, wenn beispielsweise von zumutbarer Arbeit geredet wird, statt von Arbeit, die auch der Qualifikation des Betroffenen entspricht.
Nur Sanktionen halten das Hartz IV-System am Leben
Was ist denn Hartz IV? Christoph Butterwegge nennt auf Spiegel Online drei Kernelemente:
Erstens wurde damit die Arbeitslosenhilfe, die sich an der früheren Lohnhöhe orientierte, durch Zahlungen ersetzt, die nur das Existenzminimum abdecken, egal wie viel man vorher verdient hat. Zweitens wird von den Hilfeempfängern erwartet, dass sie auch Jobs im Niedriglohnsektor annehmen. Und drittens ist der Berufs- und Qualifikationsschutz weggefallen, der dafür sorgte, dass man als Techniker nicht im Getränkemarkt und als medizinisch-technische Assistentin nicht im Callcenter landete. Jeder dieser Punkte für sich ist so unzumutbar, dass man zu seiner Durchsetzung mit drakonischen Sanktionen drohen musste.
Er sagt also, ohne die Sanktionsmöglichkeit wäre das Hartz-Regime am Ende. Das konnte das Verfassungsgericht nicht zulassen, was dann ausgerechnet die Erfinder mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen. So blöd wie die Sozialdemokraten muss man auch erst einmal sein, sich nach der Entscheidung in Karlsruhe und bei den eigenen miesen Umfragewerten hinzustellen und den Erhalt des Prinzips Fördern und Fordern zu begrüßen, obwohl das Fördern doch überhaupt nicht funktioniert, wie der seit 14 Jahren andauernde Streit ums Fordern eindrucksvoll zeigt. So kamen ja auch die Richter nicht um die Erkenntnis herum, dass es einfach widersinnig ist, eine Sanktion für drei Monate auch dann noch aufrecht zu erhalten, wenn der Betroffene sein Verhalten schon längst wieder geändert hat. Es ging also nie ums Fördern, sondern immer nur ums Fordern oder Abschrecken. Seltsam, dass einige auch nach diesem Urteil immer noch an der Bestrafung festhalten wollen, statt eine Förderung zu kritisieren, bei der offenbar das Sparen an erster Stelle steht.
Brücken werden eingerissen
So haben die Jobcenter im Jahr 2018 rund 3,07 Milliarden Euro für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit ausgegeben. Sie schöpften damit aber nur 75 Prozent des Budgets (4,07 Milliarden Euro) aus, wie das Portal O-Ton Arbeitsmarkt fortlaufend berichtet.
Insgesamt nutzten die Jobcenter also mehr als eine Milliarde Euro nicht für ihren eigentlichen Zweck, die Förderung von Hartz-IV-Beziehern. Das aber keineswegs, weil es 2018 nicht ausreichend Förderkandidaten gab. Tatsächlich nahm nicht einmal jeder zehnte Hartz-IV-Empfänger im erwerbsfähigen Alter an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teil. Ein Teil der Gelder wurde statt für arbeitsmarktpolitische Förderung für die Verwaltung der Jobcenter, zum Beispiel Personalkosten verwendet.
Außerdem waren 66 Prozent der Hartz-IV-Beziehenden im Juni 2019 bereits zwei Jahre oder länger im Bezug. „Obwohl insgesamt weniger Personen Hartz-IV-Leistungen erhielten, hat der verfestigte Leistungsbezug gegenüber Juni 2018 zugenommen.“ Was stimmt mit dem Fördern nicht, müsste man fragen. Tut aber keiner. Stattdessen wird es hingenommen, dass die immer höheren Verwaltungskosten der Jobcenter durch das Anzapfen der Mittel kompensiert werden, die eingentlich für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vorgesehen sind. Mittlerweile ist das jeder vierte Euro des sogenannten Eingliederungsetats. Die Schwarze Null muss halt stimmen. In Anlehnung an die Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts könnte man auch sagen. Da werden keine Brücken gebaut, sondern rigoros abgerissen.
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Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.