Als Überraschung wird die Ankündigung von Cem Özdemir gewertet, sich um den Fraktionsvorsitz der Grünen am 24. September zu bewerben. Spiegel Online fragt: Was treibt ihn an? Als Antwort gibt es wenig Erhelldendes. Er setze eben alles auf eine Karte, heißt es. Dazu gibt es weitere Vermutungen, zum Beispiel, ob denn der „anatolische Schwabe“ nicht auch auf die Nachfolge von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg spekuliere. Dabei reicht ein Blick auf die Umfragen, um zu verstehen, warum Özdemir an die Fraktionsspitze will.
Seit Wochen und Monaten gibt es eine klare Mehrheit in diesem Land. Und die heißt Schwarz-Grün. Gebe es Neuwahlen müsste die Union zwar mit einigen Verlusten rechnen, die Grünen könnten aber auf satte Gewinne hoffen. Das eröffnet neue Möglichkeiten, auch in andere Richtungen. Derzeit zwar noch ohne Mehrheit, wäre zum Beispiel ein Bündnis aus Grünen, SPD und Linken denkbar. Über diese Konstellation wird auch ganz offen spekuliert. In Bremen ist die Zusammenarbeit als Rot-Grün-Rot Regierung gegen die stärkste Fraktion CDU gerade umgesetzt worden.
Das heißt, eine Regierung könnte im Bund bei minimalen Verschiebungen der Stimmanteile theoretisch auch gegen Union und AfD gebildet werden. Die Arbeit im Bundestag zeigt, dass es durchaus viele Übereinstimmungen zwischen Grünen und Linken gibt. Die gerade beginnende Haushaltswoche wird das zeigen. Insbesondere die kritische Haltung zu Schwarzer Null und Schuldenbremse sind da zu nennen. Cem Özdemir lehnt wiederum eine grün-rot-rote Option entschieden ab. Der ausgewiesene Atlantiker ist Vertreter des sogenannten Realo-Flügels und ein Falke, was Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik anbelangt.
Özdemir und die Grünen befeuern seit Jahren den Ost-West-Konflikt und fahren einen auffälligen antirussischen Kurs. Hier liegt dann auch die größte Barriere für ein Regierungsprojekt jenseits der Union. Özdemir, der zuletzt im Bundestag mit einer lauten, aber im Grundsatz belanglosen Rede gegen die AfD auffiel, wird keine Skrupel haben, Rechte und Linke in einen ominösen „Putin-Topf“ zu werfen. Das wäre dann auch ganz im Sinne seiner transatlantischen Freunde, die sicherlich dabei helfen werden, ihn doch noch zum nächsten Außenminister zu machen. Bis es soweit ist, muss Özdemir aber dafür sorgen, dass die grün-rot-roten Gedankenspiele wieder schnell aus den Köpfen verschwinden. Das ist wohl seine Aufgabe.
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SEP
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.