Wer für eine höhere Kreditaufnahme des Bundes und der Länder plädiert, wird häufig mit dem Verweis auf die Schuldenbremse kritisiert, die schließlich in der Verfassung verankert sei und der Politik quasi vorschreibe, weiterhin sparsam zu sein und ausgeglichene Haushalte samt Schwarzer Null aufzustellen. Es wäre daher irgendwie illegal, diese Regel zu umgehen, mit Ausnahme des Eintritts einer Naturkatastrophe. Das ist leider grundfalsch, weil diese Behauptung erstens voraussetzt, dass die Schuldenbremse das einzige sei, was im Grundgesetz irgendwie von Bedeutung wäre und zweitens es keinerlei Hintertüren gebe, die eine Regierung nutzen könnte.
Investieren ist günstiger als sparen
Die Schuldenbremse im Grundgesetz ist noch nicht alt, doch sie gilt bereits als Religion. Dabei stehen in der Verfassung noch sehr viel mehr Dinge von ungleich größerer Bedeutung, die aber den restriktiven Vorgaben der Schuldenbremse klar widersprechen. So ist in Artikel 20 Grundgesetz, der Ewigkeitscharakter genießt und niemals verändert oder gestrichen werden darf, geregelt, dass die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Bundesstaat zu sein hat. Die Gebietskörperschaften haben also den Auftrag, öffentliche Leistungen vorzuhalten oder bereitzustellen, um allen Menschen in der Gesellschaft eine Teilhabe zu ermöglichen. Man nennt das auch Daseinsvorsorge.
Diese Verpflichtung könnte man ja nun mit Verweis auf die Schuldenbremse ganz einfach aushebeln. Schließlich schreibe die Schuldenregel vor, dass Bund und Länder ihre Budgets ohne Neuverschuldung gestalten müssen. Wenn die Brücke dann einstürzt, obwohl der marode Zustand längst bekannt war, ist das eben so. Denn wichtiger soll angeblich sein, den künftigen Generationen ausgeglichene Haushalte zu übergeben, statt eine intakte Infrastruktur. Die große Täuschung besteht nun aber darin, dass sich das Vorhaben einer geringeren Neuverschuldung dauerhaft fortführen ließe. Dabei sind die eingesparten Investitionen nur verschoben.
Denn kommt die Gesellschaft zu der Überzeugung, dass Brücken, Schulen oder Abwasserkanäle vielleicht doch wichtig sind, um nicht zuletzt den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren, muss man sie bauen. Allerdings haben sich die Kosten dann auch deutlich erhöht. Sie liegen bei der Neuanschaffung von Sachwerten immer höher, als wenn man unter Umgehung absurder Schuldenregeln laufend in den Erhalt der einmal geschaffenen Infrastruktur investiert hätte. Diese Zahl ist auch kein Geheimnis. Das KfW-Kommunalpanel 2019 schätzt den Investitionsbedarf in diesem Land auf 138,4 Mrd. Euro. Das ist trotz eines Rückgangs immer noch gewaltig viel, auch weil es immer schwieriger wird, so viele Projekte parallel umzusetzen.
Der absurde Schuldenvorwurf
Es gibt also öffentliche Aufgaben, die zu erfüllen, einer restriktiven Schuldenregel fundamental widersprechen. Der Vorschlag, die erforderlichen Investitionen ausschließlich aus dem Cash Flow zu tätigen, ist dabei ein ebenso großer Unsinn, den man sich auch an einem einfachen Beispiel aus der eigenen Lebenswirklichkeit klarmachen kann. Wer ein Haus kaufen möchte, um darin mietfrei zu wohnen, spart auch nicht, bis er das Geld kurz vor der Rente vielleicht zusammenhat, weil dann die Anschaffung der Immobilie vollkommen sinnlos wäre. Genauso idiotisch ist es, eine notwendige Investition solange aufzuschieben, bis die Höhe eines Sparbetrags erreicht ist. Eine Volkswirtschaft funktioniert eben ganz anders und zwar mit Schulden.
Leider gibt es im Deutschen nur den einen Begriff, der zwar mehrere Bedeutungen hat, aber immer nur mit der des Vorwurfes verknüpft wird. Schulden sind aber überhaupt kein Problem. Um beim Beispiel des Häuslebauers zu bleiben, handelt der schließlich vernünftig, wenn er sich für den Erwerb der Immobilie verschuldet, obwohl er gleichzeitig auch sicherstellen muss, zu einem bestimmten Termin in der Zukunft, den Kredit zurückzuzahlen. Er lebt schließlich nicht ewig und hat spätestens mit seinem natürlichen Ende auch keine Einnahmen mehr, aus denen er Zinsen und Tilgung leisten könnte. Es gibt also ein Risiko, das Gläubiger und Schuldner gleichermaßen eingehen.
Hilfe, ein Risiko. Sollte man das nicht vermeiden. Nein, Geld zu leihen, bleibt vernünftig, da nur daraus die Investitionen erst entstehen können, die wiederum eine Volkswirtschaft am Leben halten. Der Witz ist nun, dass das Risiko des Staates sehr viel geringer ist, da es sich hierbei nicht um eine natürliche Person handelt, sondern um ein Gebilde, das per Definition ewig existiert und damit auch immer Einnahmen hat, aus denen die Verbindlichkeiten bedient werden können. Es ist daher noch absurder, ausgerechnet dem Staat, der die höchste Bonität besitzt, Fesseln in Form einer Schuldenbremse anzulegen. Das ergibt einfach keinen Sinn, wenn gerade nicht die Schulden, sondern kaputte Brücken unser Problem sind.
Störung des Gleichgewichts
Die Behauptung, dass die Schuldenbremse nicht umgangen werden könne, weil sie im Grundgesetz verankert sei, ist aber noch aus einem anderen Grund total falsch. Es gibt nämlich Ausnahmen, über die nicht der liebe Gott oder das Bundesverfassungsgericht, sondern der Bundestag als gesetzgebendes sowie die Bundesregierung als Exekutivorgan entscheiden. Das wäre beispielsweise bei einem Notfall im Sinne einer Naturkatastrophe gegeben. Dieser muss festgestellt werden und zwar eben nicht von einer quasireligiösen Instanz, wie das manchmal den Anschein hat, wenn man die Diskussionen zur Schuldenbremse verfolgt, sondern vom Parlament und der Regierung.
Letztere kann auch eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erklären und damit die komplette Schuldenregel ad acta legen. Diese Störung liegt übrigens schon längst vor, da die Bundesrepublik seit Jahren mit ihrem hohen Leistungsbilanzüberschuss gegen Europäisches Recht und das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) aus dem Jahr 1967 verstößt. Letzteres verlangt ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht, aber auch Preisniveaustabilität, einen hohen Beschäftigungsstand und angemessenes Wirtschaftswachstum. Da mindestens zwei, wenn nicht sogar alle vier Ziele deutlich verfehlt werden, besteht die Verpflichtung zur staatlichen Intervention, in Form aktiver Konjunkturpolitik.
Doch sie stünde formal im Widerspruch zu einer Schuldenbremse, die als reines Neuverschuldungsverbot missverstanden wird. Glücklicherweise gibt es aber die Hintertüren, die man nur aufschließen muss, um den Blödsinn mit der Schuldenbremse zu begraben. Am besten wäre es aber in der Tat, wenn diese absurde Regelung aus dem Grundgesetz komplett wieder verschwinden würde. Eine Zweidrittelmehrheit ist nur leider überhaupt nicht in Sicht, weil die wirtschaftspolitische Einfalt weiterhin die Oberhand hat. Das ändert nur nichts daran, dass das Festhalten an Schuldenbremse und Schwarzer Null der größte Unsinn ist, der letztlich auch dazu führt, dass weiterer Protest entsteht und politische Kräfte an Zustimmung gewinnen, die sich einer vernünftigen Entwicklung noch stärker widersetzen würden.
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AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.