Da reibt man sich verwundert die Augen. Die Süddeutsche Zeitung bringt eine exklusive Sommerlochgeschichte über den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Rainer Dulger. Er droht der Gewerkschaft IG Metall mit einem Ende des Flächentarifvertrages. „Wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlassen, kann die Gewerkschaft zusehen, wie sie sich im Häuserkampf durchschlägt“, sagte Dulger in einem Interview. Warum aber Häuserkampf? Die Schlacht ist doch schon längst zugunsten der Arbeitgeber entschieden. Das zeigt gerade der jüngste Tarifabschluss, den Dulger als angeblich schmerzhaftes Beispiel hervorkramt.
Übertriebenes Gejammer
Das Gejammer der Unternehmen ist übertrieben. Sie prangern an, dass die Gewerkschaft andauernd höhere Löhne und mehr Freizeit für die Beschäftigen verlange. Ja was denn auch sonst? Das überfordere die Betriebe, die sich deshalb Stück für Stück aus dem Arbeitgeberverband verabschieden würden. Diese Geschichte hat Dulger bereits Anfang 2018 erzählt, zur Zeit des jüngsten Tarifabschlusses. Den führt der Verbandschef oder die Interviewer, man weiß es wohl erst hinter der Bezahlschranke genauer, auch an, um zu zeigen, unter welch harten Lohnbedingungen die Arbeitgeber zu leiden hätten. „Es war ein sehr, sehr hoher Abschluss, der bei uns zu Austritten geführt hat“, sagte Dulger. „Ich habe da wirklich Sorgen: sowohl, was die Tarifbindung der Betriebe, als auch die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie betrifft.“
Die IG Metall setzte 4,3 Prozent durch, heißt es in dem Teaser-Bericht, der nicht hinter der Bezahlschranke steht. Das klingt zunächst nach viel. Jedoch bleibt unerwähnt, dass der Tarifabschluss ein hochkompliziertes Gewirr aus intransparenten Vereinbarungen mit einer Reihe von Einmalzahlungen ist, der aber für ganze 27 Monate gilt. Auf ein Jahr gerechnet, kommt damit etwas anderes in der Lohntüte heraus, als plakativ angegeben. Unerwähnt bleibt auch, dass die Gewerkschaft mit 6 Prozent mehr Lohn damals in die Verhandlungen gegangen ist. Ist das Ergebnis nun immer noch schmerzhaft. Eindeutig ja, aber nicht für die Arbeitgeber, sondern für die Arbeitnehmer, die vermutlich trotz der Steigerung ihrer Tariflöhne kaum mit einer Zunahme ihrer realen Einkommen rechnen können. Gewonnen haben dagegen die Arbeitgeber. Sie haben über zwei Jahre lang Ruhe an der Streikfront für einen sehr moderaten Preis erstanden, der aber öffentlich als außerordentlich teuer verkauft und verstanden wird.
Nachwirkungen
Deshalb jammern die Arbeitgeber weiter über die Streikoptionen der Gewerkschaften und erwecken damit den Eindruck, nicht sie, sondern die Arbeitnehmer hätten eine überlegenere Position, die zudem um unfaire Mittel im Arbeitskampf ergänzt würde. „Das ist einfach zu viel für uns“, erfährt der Leser von Dulger hinter der Bezahlschranke der Süddeutschen Zeitung. Daher drohen die Arbeitgeber mit weiterer Tarifflucht. Das nutzt aber bei einer langen Laufzeit von Tarifverträgen nicht sonderlich viel. Denn so lange der Tarifvertrag gilt, gilt er, auch für Unternehmen, die aus dem Arbeitgeberverband austreten. Der Vertrag gilt sogar noch über sein reguläres Ende hinaus, solange kein neuer Tarifvertrag abgeschlossen worden ist. Nachwirkung nennt der Gesetzgeber das. Die Drohung mit der Tarifflucht ist daher zwar nicht gänzlich gegenstandslos, aber ein Häuserkampf, so wie Dulger es formuliert, ist es nun auch wieder nicht.
Beabsichtigt ist daher auch etwas ganz anderes. Die Arbeitgeber wollen mit der bekannten Drohung vor allem Angst bei den Beschäftigten erzeugen, um später Zugeständnisse bei der nächsten Tarifrunde leichter durchsetzen zu können. Sie bereiten also den nächsten Triumph über die Arbeitnehmer in der Zukunft vor, mit viel öffentlicher Empörung über angeblich zu schmerzhafte Tarifabschlüsse in der Vergangenheit. Und die Öffentlichkeit schluckt den Köder. Sie glaubt tatsächlich, dass die Arbeitnehmer in unverschämter Weise aus der Lohnpulle saufen. Dabei ist es genau umgekehrt. Die Gewinne der Unternehmen steigen. Sie sind mittlerweile zu Nettosparern geworden. Der Tarifabschluss der IG Metall hatte außerdem Symbolcharakter, vor allem was die lange Laufzeit betrifft. Andere Branchen zogen nach. Im öffentlichen Dienst kam am Ende ein Tarifvertrag mit einer Gesamtlänge von gar 30 Monaten heraus.
Große Einkommensungleichheit
In Wirklichkeit hinkt Deutschland bei der Lohnentwicklung aber weiterhin deutlich hinterher, was kürzlich auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem Deutschlandbericht bemängelte. „Während der Überschuss in den letzten zwei Jahrzehnten anschwoll und 2018 einen neuen Weltrekord von 260 Milliarden Euro erreichte, stagnierten die unteren und mittleren Einkommen, schreiben die IWF-Ökonomen„. Lediglich die Top-Einkommen seien in Deutschland gestiegen. Die scheinbar hohen Lohnabschlüsse, die auch die Gewerkschaften immer wieder stolz aus Zwecken des Eigenmarketings vor sich her tragen, wobei das mit den längeren Laufzeiten nicht so prominent kommuniziert wird, täuschen allerdings darüber hinweg.
Die Drohung der Arbeitgeber, wegen angeblicher Härten aus der Tarifpartnerschaft aussteigen zu wollen, verdeckt zudem, dass die Tarifbindung in Deutschland bereits sehr schlecht ist und schlechter wird. Die Gewerkschaften verfügen dadurch schon jetzt im Arbeitskampf über immer weniger Macht. Hier ist dann auch die Politik gefragt. Sie kann die Tarifpartnerschaft stärken, indem sie erstens für ordentliche Abschlüsse im öffentlichen Dienst sorgt und zweitens geschlossene Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. Doch all das passiert nur unzureichend, wie der immer noch große Niedriglohnsektor beweist und der feste Glauben an die Sinnhaftigkeit von schwarzer Null, Schuldenbremse und Exportüberschüsse. Dieses Dogma herrscht leider auch in den Köpfen der meisten Medienmacher vor, die folglich das Arbeitgebermärchen von den viel zu hohen Lohnabschlüssen überzeugend finden.
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.