Kampagnenjournalismus

Geschrieben von: am 15. Jul 2019 um 16:05

Es ist schon erstaunlich, wie hierzulande Stimmung für Ursula von der Leyen gemacht wird. Dabei gibt es viele Gründe (u.a. hier und hier), diese Kandidatin für den Top-Job der EU abzulehnen. Auf der richtigen Spur war vor allem die SPD in Europa, als sie ein Papier mit den Verfehlungen von der Leyens letzte Woche in Umlauf brachte. Es ist ein Dokument des Versagens, das man auch noch um einige Punkte erweitern könnte. Doch das interessiert kaum jemanden. Dominierend ist ja die Empörung über eine angebliche Diffamierung von der Leyens, die schließlich auch die Sozialdemokraten zum kleinlauten Rückzug veranlasste. Wegen deren Nein zu von der Leyen gelten sie dennoch weiterhin als vaterlandslose Gesellen. Die Grünen, die auch erklärt hatten, die Deutsche nicht wählen zu wollen, werden dagegen geschont. So geht Kampagnenjournalismus.

Die SPD verfügt im Europaparlament über 16 Sitze, die deutschen Grünen haben 21. Die Abgeordneten beider Parteien verweigern der Kandidatin für den EU-Kommissionsvorsitz die Zustimmung. Die meiste Kritik für diese Haltung bekommt aber die SPD zu spüren, obwohl sich der Rest der S&D Fraktion die Abstimmung offen hält. Bei den Grünen ist die Ablehnung hingegen auf der gesamten Fraktionsebene gefallen. Nicht nur die 21 deutschen Abgeordneten sondern alle 74 wollen gegen von der Leyen stimmen. Die 108 Liberalen sind unentschieden. Die fünf FDP-Abgeordneten bleiben auf Nachfrage vage, weil auch die Kandidatin vage geblieben ist. Wischiwaschi also. Selbst bei CDU und CSU und deren EVP-Fraktion gibt es Kritik. So fühlt sich der Ex-Spitzenkandidat Manfred Weber immer noch als Verschwörungsopfer. Zusammengenommen haben also alle deutschen Abgeordneten Bedenken angemeldet und nicht nur die SPD allein.

Fürs Poesiealbum

Die deutsche Öffentlichkeit will darüber und über die Tatsache, dass von der Leyen gänzlich ungeeignet ist, aber nicht reden. Geradezu verstörend sind die Argumente. Endlich eine Frau und eine Deutsche, die zudem Wurzeln in Brüssel hat und auch noch aus der Mitte des politischen Spektrums kommt usw. usf. Dieses distanzlose Gequatsche ist jämmerlich. Von der Leyen müsste nach dieser Lesart für alle demokratischen Parteien verdaulich sein, eben weil sie aus der politischen Mitte stammt und nicht vom Rand, meint etwa Barbara Wesel, Brüssel-Korrespondentin der Deutschen Welle, im Tagesgespräch auf phoenix. Für sie ist es offenbar ein viel größeres Desaster, wenn der ganze Prozess der Kandidatenfindung von Neuem beginnen müsste. Dabei sei nur beiläufig daran erinnert, dass die jetzige Kommission noch bis Ende Oktober im Amt ist, also genügend Zeit für eine andere Lösung übrig bliebe.

Nun droht aber am Dienstagabend ein Szenario, wonach von der Leyen vielleicht mit den Stimmen der ganz Rechten gewählt würde. Das wäre allerdings die logische Konsequenz mit Blick auf europäische Institutionen, in denen die Demokratie schon lange keine Rolle mehr spielt, sondern das Recht des Stärkeren zählt. Die sogenannte Mitte des politischen Spektrums ist verantwortlich für diese Entwicklung, will diesen Makel aber nicht für alle sichtbar im eigenen Poesiealbum kleben haben. Deshalb soll einmal mehr der Schwarze Peter bei den geschrumpften Sozialdemokraten abgeladen werden. Leider gibt es dort auch immer einen oder mehrere Idioten, die sich gern als Zeugen der Anklage einspannen lassen. So ist es diesmal unter anderem Otto Schily, der plötzlich in einem Springer-Sonntagsblatt auftaucht, um die Haltung von 16 Abgeordneten zu kritisieren, auf die es doch nun wirklich überhaupt nicht mehr ankommt.

Bedeutungslos klein

Der Mann, der mitverantwortlich für den Niedergang der SPD ist, erklärt, dass die SPD mehr an die Stabilität Europas denken und sich „nicht an engstirnigen parteipolitischen Interessen orientieren“ soll. Von der Leyen sei außerdem „eine hochkompetente, intelligente, welterfahrene Politikerin“. Dazu ein passender Kommentar…

Schily und Co. glauben, dass es von den 16 Abgeordneten der SPD abhinge, ob von der Leyen gewählt wird oder nicht. Das ist absurd. Ohne die deutschen Sozialdemokraten würde es auch dann locker reichen, wenn EVP, S&D sowie die Liberalen dem Vorschlag des Rates folgen. Den Sozialdemokraten wird seltsamerweise eine Rolle aufgezwungen, die sie auf europäischer Bühne gar nicht mehr ausfüllen können. Die SPD ist so bedeutungslos klein, dass sie zusammen mit Grünen und Linken, die sich bislang klar gegen die deutsche Verteidigungsministerin ausgesprochen haben, nur auf 131 Gegenstimmen käme. Wieso wird da eigentlich permanent behauptet, die Wahl von der Leyens stünde auf der Kippe?

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Fred Hotner  Juli 16, 2019

    Wo kann man sich denn mal das Papier über von der Leyen runterladen, was im EU-Parlament kursiert?

    • André Tautenhahn  Juli 16, 2019

      Na ja, das ist ein internes Papier, das der deutsche Gruppenchef Jens Geier in der Fraktion der europäischen Sozialdemokraten verteilen ließ und das inzwischen wieder einkassiert worden ist. Man kann es im Internet aber finden, Suchvorschlag: „Why Ursula von der Leyen is an inadequate and inappropriate candidate“ ;-)
      Inhaltlich ist das Papier überhaupt nicht zu beanstanden. Es bezieht sich hauptsächlich auf Medienberichte. Warum man da in Deutschland von Schmutzkampagne spricht, bleibt ein Rätsel oder ist eben nur mit Kampagnenjournalismus zu erklären.