Der Bundestag ist häufig leer. Nur wenige Abgeordnete debattieren und beschließen Gesetze. Die AfD-Fraktion hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, in regelmäßigen Abständen eine Überprüfung der Beschlussfähigkeit des Parlaments zu beantragen. Zuletzt scheiterten die Abgeordneten allerdings am Sitzungsvorstand unter Leitung von Claudia Roth. Die Empörung war groß, auch weil sie sich prima mit der grünen Reizfigur verbinden ließ. Von Rechtsbruch war die Rede und auch so mancher Außenstehende sah die AfD wenigstens teilweise oder moralisch im Recht. Das stimmt aber überhaupt nicht.
Der Absatz 2 des §45 der Geschäftsordnung des Bundestages formuliert die Bedingung, dass im Falle eines Antrags auf Überprüfung der Beschlussfähigkeit auch gleich lautende Zweifel im Sitzungsvorstand vorherrschen müssen. Der Sitzungsvorstand besteht aus dem Präsidenten des Bundestages oder seiner Stellvertreter sowie zwei Schriftführern. Ist die Sitzungsleitung einhellig der Meinung, die Beschlussfähigkeit liege vor, liegt sie auch vor. Punkt. Das klingt auf den ersten Blick komisch und widersprüchlich zum Absatz 1 des Paragrafen 45, wonach der Bundestag nur dann beschlussfähig sei, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Jeder Fernsehzuschauer kann demnach leicht nachzählen und feststellen, dass das selten der Fall ist. Ein Skandal? Nein. Denn die Zahl der Abgeordneten im Sitzungssaal ist vollkommen wurscht.
Auf das Verfahren kommt es an
Wie das Bundesverfassungsgericht schon mehrfach festgestellt hat, spielt es keine Rolle, wie viele Abgeordnete tatsächlich anwesend sind. Die Feststellung der Beschlussunfähigkeit ist entscheidend, also ein parlamentarisches Verfahren, das zunächst eingeleitet und durch klare Zählung, hier Hammelsprung, abgeschlossen werden muss. Findet dieses Verfahren nicht statt, kann auch keine Beschlussunfähigkeit festgestellt werden. Im Übrigen kann der Vorgang, wie schon häufig geschehen, bei sichtbar zu wenigen Abgeordneten im Saal starten und dennoch zu dem Ergebnis einer Beschlussfähigkeit führen. Nämlich dann, wenn genügend andere Abgeordnete zur Zählung herbeigeschafft werden, um das erforderliche Quorum zu erreichen. Gern bleiben in diesem Fall auch einige Abgeordnete länger im Plenarsaal sitzen, um den Start der Zählung hinauszuzögern. Das kann man doof finden, ist aber wie oben schon erwähnt, vollkommen wurscht.
Hätte wie im jüngsten Beispiel einer nächtlichen Sitzung im Sitzungsvorstand einer der acht AfD-Schriftführer zufällig Dienst geschoben, wäre die erforderliche Uneinigkeit möglicherweise zustande gekommen und es hätte dem Wunsch der AfD-Fraktion entsprochen werden müssen, eine Überprüfung der Beschlussfähigkeit zu veranlassen. Ob diese erfolgreich gewesen wäre, ist aber keinesfalls sicher, da es eben wurscht ist, wie viele Abgeordnete zum Zeitpunkt des Antrages und zum Start des Zählverfahrens im Plenum waren. Es müssen ja alle raus aus dem Sitzungssaal. Vielleicht hätten die anderen Fraktionen dann genügend Kollegen, unter Umständen im Schlafanzug, herbeigerufen. Die Debatte wäre dann statt um 1.30 Uhr erst um 2.30 Uhr, aber sicherlich mit der gleichen Anzahl an Abgeordneten wie zum Zeitpunkt des Antrags fortgesetzt worden.
Zum Glück oder Leid, wie auch immer man nächtliche Debatten im Bundestag bewerten mag, hat der Sitzungsvorstand einhellig anders entschieden und den Antrag zur Geschäftsordnung korrekt zurückgewiesen. Dass Claudia Roth ungern zählen lassen wollte, mag ja richtig sein, empörend ist das nun aber überhaupt nicht. Denn zur Vollständigkeit gehört auch, dass gerade die AfDeppen dieses Spielchen, man muss es so bezeichnen, im Dezember 2018 schon einmal selbst auf eine absurde Spitze trieben. So hatte man einen Antrag auf Feststellung der Beschlussfähigkeit gestellt und dann selbst nicht an der Abstimmung teilgenommen, nur um die anderen vorzuführen und einen Abbruch der Debatte zu erzwingen. Das Ansinnen ging schief und der Kindergarten in Gänze war blamiert. Dass nun der Sitzungsvorstand AfD-Anträge dieser Art als parlamentarischen Unfug wertet und zurückweist, ist mindestens verständlich und maximal professionell.
Es gibt keinen Skandal
Einen Skandal, wie er also immer wieder aus der Leere des Plenums heraus konstruiert wird, gibt es demnach nicht. Es ist halt immer noch wurscht wie viele Abgeordnete im Plenum sitzen und über Gesetze entscheiden. Was bei der vorschnellen Beurteilung „Willkür“ einfach immer wieder unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass der Bundestag ein sogenanntes Arbeitsparlament ist, also die eigentliche Arbeit außerhalb, zum Beispiel in den Ausschüssen stattfindet, in denen wiederum die Mehrheitsverhältnisse klar abgebildet sind. Diese Ausschüsse tagen auch schon mal parallel zu den Bundestagssitzungen. Daher ist im Plenum in der Regel ein ständiges Kommen und Gehen der jeweiligen Fachpolitiker zu beobachten, wenn die einzelnen Tagesordnungspunkte aufgerufen werden.
Auf den Zuschauer mag das alles befremdlich wirken. Aber wenn der einmal genau hinschaut, tritt die AfD auch längst nicht mehr zu jeder Sitzung in voller Fraktionsstärke an, wie noch zu Beginn der Legislatur, als man der Öffentlichkeit unbedingt zeigen wollte, wie ernst man den Parlamentarismus nimmt. Auch die AfDeppen haben inzwischen gemerkt, dass zum Parlamentarismus mehr gehört, als im Plenum herumzusitzen und Fotos von leeren Reihen anderer Fraktionen zu machen. Anhörungen und Berichterstattergespräche finden eben parallel statt. Wer konstruktiv mitarbeiten will, muss solche Termine dann auch wahrnehmen.
Im Übrigen gelten dieselben Regeln auch für Abstimmungen. Der jeweilige Sitzungsvorstand des Bundestages entscheidet, wie er die Mehrheit sieht und gibt das Ergebnis nach Fraktionen an. Namen einzelner Abgeordneter werden dabei nicht protokolliert, das gibt es nur bei der namentlichen Abstimmung, die ebenfalls von mindestens 5 Prozent der Abgeordneten oder einer Fraktion verlangt werden kann. Abgeordnete von Linkspartei und AfD fehlen hier übrigens am häufigsten. Bei der üblichen Abstimmung durch Handheben oder Aufstehen kann natürlich auch Uneinigkeit über die Mehrheitsverhältnisse im Sitzungsvorstand entstehen, die dann wiederum per Zählung durch Hammelsprung beseitigt wird. Das ist alles ganz normal geregelt. Eine Diskussion wert ist sicherlich, ob grundsätzlich immer erkennbar sein sollte, wie einzelne Abgeordnete abstimmen.
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.