Die SPD ist im Eimer, die Union im Grunde auch und die GroKo damit irgendwie am Ende, es muss also Neuwahlen geben. So oder so ähnlich prophezeien es Edelfedern und Parteimitglieder. Doch zum wiederholten Male sei erwähnt, dass das Grundgesetz keine Entlassung der Regierung nach einem Koalitionsende vorsieht. Wir sind ja nicht in Österreich. Die gewählte Kanzlerin kann weiter regieren, auch ohne Mehrheit. Sie ist bereits gewählt und nach dem Grundgesetz tatsächlich so etwas ähnliches wie eine Gottkanzlerin. Natürlich nur in der Theorie.
Konstruktives Misstrauensvotum
Aus dem Amt gedrängt werden kann Merkel nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Es muss also einen Gegenkandidaten geben, der die Mehrheit der Mitglieder des Hauses in der entscheidenden Abstimmung hinter sich weiß. Doch wer soll das sein? Würden sich SPD, Grüne, FDP und Linke auf jemanden verständigen können? Wohl kaum. Alle anderen denkbaren Mehrheiten mit der AfD scheiden ebenfalls aus. Selbst wenn ein konstruktives Misstrauensvotum Erfolg hätte, gebe es immer noch keine Neuwahlen. Das geht nur mit einem Trick, der eine Selbstauflösung des Parlaments durch die Hintertür ermöglicht.
Vertrauensfrage
Das ist schon dreimal in der Geschichte der Bundesrepublik geschehen. Das Instrument dazu heißt Vertrauensfrage, die der Kanzler stellen und verlieren muss. Dann kann er die Auflösung des Bundestages beim Bundespräsidenten beantragen. Der muss dem aber nicht zustimmen, wenn er der Meinung ist, dass bis zum regulären Ende der Wahlperiode weiterregiert werden könnte. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht es natürlich anders aus. Sowohl Willy Brandt, als auch Helmut Kohl und Gerhard Schröder hatten die Vertrauensfrage in der Absicht gestellt, sie zu verlieren und dadurch Neuwahlen zu erreichen. Dreimal gelang das auch wie geplant.
Bundesverfassungsgericht
Bei Kohl und Schröder war das Vorgehen allerdings hoch problematisch, da diese Kanzler über eigene und arbeitsfähige Mehrheiten im Parlament verfügten. Das Bundesverfassungsgericht ließ Kohls Vertrauensfrage dennoch durchgehen, gab aber den Hinweis, dass dieses Instrument künftig nur noch bei aktuellen oder drohenden Konflikts- oder Krisenlagen zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit zulässig sei. Bei Schröder war das offenbar gegeben. Klagen gegen das Manöver schmetterte das Bundesverfassungsgericht jedenfalls als unzulässig ab.
Pattsituation
Willy Brandt war bisher der einzige Kanzler, der die sogenannte „unechte“ Vertrauensfrage in der vom Grundgesetz vorgeschriebenen Weise und vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Auslegung angewandt hatte. Seine Regierung erlitt 1972 eine Abstimmungsniederlage bei der Verabschiedung des Haushaltplans. Einige Mitglieder von SPD und FDP hatten zuvor im Streit über die Ostpolitik Brandts die Seiten gewechselt. Der Oppositionsführer Rainer Barzel versuchte daraufhin mit einem konstruktiven Misstrauensvotum, Brandt zu stürzen. Das gelang ihm aber nicht. Somit gab es ein Patt. Es fehlten einerseits Stimmen für den Gegenkandidaten, aber auch die Regierung selbst hatte keine Mehrheit mehr. Die unechte Vertrauensfrage, um Neuwahlen herbeizuführen, war daher als Lösung angemessen.
Beschädigungen
Sowohl bei Kohl als auch bei Schröder gab es diese vertrackte Lage nicht, weshalb der Vorwurf, den Parlamentarismus mit „unechten“ Vertrauensfragen nachhaltig beschädigt zu haben, auch gerechtfertigt war. Das Vorbild Kohl lieferte den Nachahmer Schröder, der 2005 seine Regierung vorzeitig abbrach, mit dem Ziel durch Neuwahlen gestärkt aus der Sache herauszukommen. Das Gegenteil war der Fall. Angela Merkel kam mit Hilfe der SPD ins Amt, obwohl es auch andere Mehrheiten im Bundestag gegeben hätte. 14 Jahre später regiert Merkel immer noch und lobt ununterbrochen die Agenda 2010, die damals der Auslöser für die Serie an SPD-Wahlniederlagen war. SPD und Union, die im Vermittlungsausschuss zu der Zeit bereits gemeinsame Sache gegen die SPD-Parteibasis und die Mehrheit der Bevölkerung machten, arbeiteten auch beim Neuwahlcoup erfolgreich zusammen.
Haltungsnoten
Bis heute schätzt man sich und das gegenseitige Vertrauen. Als Bundeskanzlerin würdigt Merkel gern verdiente Agenda-Politiker der SPD, darunter auch die gerade eben erst zurückgetretene Fraktions- und Parteichefin Andrea Nahles, die eine Sozialdemokratin mit Herzblut und zudem ein feiner Charakter sei. Offenbar ist Nahles in der GroKo verträglicher als im Umgang mit ihrer eigenen Partei. Das lässt einmal mehr tief blicken. Die Gottkanzlerin verteilt jedenfalls Haltungsnoten, so als ginge sie die Regierung, die unter ihr dilettiert, gar nichts an. Stiege die SPD nun aus der Koalition aus, was eher unwahrscheinlich ist, hätte Merkel keine Mehrheit mehr. Der besagte Krisenfall wäre objektiv eingetreten. Sie könnte die Vertrauensfrage sogar mit einer Sachfrage verknüpfen, um das Scheitern der Regierung glaubhaft zu demonstrieren. Doch würde sie auch eine Vertrauensfrage stellen? Irgendwie ist das ja unter ihrem Duktus.
JUN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.