Glaubt man den Wahlplakaten und Äußerungen der Spitzenkandidaten steht die Europawahl im Zeichen des Zusammenhalts. Alle beschwören eine Gemeinschaft, die es schon lange nicht mehr gibt oder Hashtaggen #EuropaistdieAntwort. Vor allem die Parteien, die in Regierungsverantwortung stehend, seit Jahren nationale Interessen zu Lasten der europäischen Partner verfolgen, beklagen sich ausgerechnet über Populisten, die zum Nationalismus neigen. Bestätigt wird das augenscheinlich durch ein rechtzeitig vor den Wahlen veröffentlichtes Video, das die Korrumpierbarkeit des – Achtung neuer Superlativ – „populistischen Extremisten“ zeigt.
Erfolgreiche Demontage
Bei der Europawahl wird es herbe Verluste für Sozialdemokraten und Konservative geben. Weil das bereits absehbar ist, besprechen Journalisten und Politiker schon jetzt die Konsequenzen für die nationale Ebene. Bei der SPD wird darüber nachgedacht, wer das Feld räumen muss und wer sich schon mal warmlaufen kann. So steht ein Umbau der Bundesregierung an, weil Ministerin Barley nach Brüssel wechselt und Ministerin Giffey wackelt, die in ihrer Dissertation offenbar zu viel abgeschrieben hat. Darüber hinaus soll die Parteivorsitzende Andrea Nahles als Konsequenz aus der Wahlniederlage ihren Posten als Fraktionschefin räumen müssen.
Die Selbstzerfleischung hat somit schon eingesetzt, noch bevor auch nur eine Stimme ausgezählt worden ist. Wie zum Hohn prangt da die Wahlwerbung der Genossen „Unser Zusammenhalt ist der Schlüssel zur Erfolgsgeschichte Europas.“ Glaubt man den Umfragen, gewinnen die Parteien hinzu, denen man vorwirft, von der EU wenig zu halten, die Gemeinschaft sogar zerstören und nur nationale Interessen in den Mittelpunkt rücken zu wollen. Sie bezeichnet man abwertend als Populisten oder neuerdings als populistische Extremisten, wie Prantl in der Süddeutschen schreibt. Doch wo liegt der Unterschied zu jenen Extremisten, die sich fälschlicherweise als altruistische Europäer verstehen?
Die SPD schreibt zum Beispiel: „Nur, wenn wir zusammenhalten, schaffen wir das soziale Europa.“ Als es um Griechenlands Schulden ging, lautete das übrigens so: „Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“ Der ehemalige Vorsitzende der SPD hatte die Trumpisierung der Politik schon drauf, als Trump noch gar kein Thema war. Auch für solche feinen Europäer zählt nur das nationale Interesse. Sie haben es zugelassen, dass in Griechenland ein Gesundheitssystem praktisch kaum noch vorhanden ist und qualifizierte Menschen in Scharen auswandern, vermutlich nach Deutschland, um hier gegen schmalen Lohn und harte Arbeitsbedingungen den hausgemachten Fachkräftemangel zu beheben.
Regierende Extremisten
Das soziale Europa wird eben nicht erst von den „Populisten“ oder „populistischen Extremisten“ bedroht, sondern ist bereits durch die „Vorzeigedemokraten“ der etablierten Parteien unter die Räder gekommen. Ihr Festhalten an Austeritätspolitik, Lohndrückerei, Fetisch Exportüberschuss und Beschäftigungsnationalismus haben den europäischen Zusammenhalt längst zerstört. Der beklagte „populistische Extremismus“ ist folglich nur das Ergebnis einer verfehlten Politik, die seit geraumer Zeit ausschließlich nationale Interessen verfolgt und auch kein Problem damit hat, das Recht des Stärkeren mit zweifelhaften Eingreiftruppen wie der Eurogruppe oder der Troika durchzusetzen.
Klar ist auch noch nicht, ob es überhaupt rechtens war, dass die EZB Griechenland von der Geldversorgung abschneiden durfte, um die Regierung in Athen zum Kürzen von Löhnen und Renten sowie dem Ausverkauf öffentlichen Eigentums zu zwingen. Hier wäre weniger ein Zusammenhalt, denn dringende Aufklärung und Transparenz hilfreich, die aber wiederum andere EU-Institutionen verweigern.
Dieses wahre Gesicht regierender Extremisten wird als solches leider nicht beschrieben, sondern sich empörend an den rechten Mitessern abgearbeitet, die neben dem Furunkel am Gesäß des Bösen immer häufiger empor sprießen. HC Strache ist dabei ertappt worden, wie er im Suff politische Zugeständnisse im Austausch gegen finanzielle Unterstützung machte. Ein Skandal, denn in der Regel lassen sich Politiker bei der Korruption nicht filmen oder vergessen irgendwelche Aktenkoffer. Aber gibt es sie deshalb nicht? Üppige Parteispenden und Nebenverdienste sowie ein ausgeprägter Lobbyismus sind Indizien für eine Politik, die sich entweder indirekt beeinflussen oder sogar bewusst kaufen lässt.
Weiterer Kuhhandel droht
Auf der Strecke bleiben in jedem Fall die Interessen der Mehrheit der Menschen, die aufgerufen sind, in dieser Woche wählen zu gehen. So entgehen laut EU-Lobbyreport den EU-Ländern durch Steuervermeidung und -optimierung jedes Jahr 50 bis 70 Milliarden Euro an Steuereinnahmen. Das haben auch die wahlkämpfenden Parteien erkannt. Die SPD fordert konsequent „Konzerne besteuern – Steuerkriminalität und Steuerdumping beenden“. Was allerdings für den Europawahlkampf gilt, lehnen die Sozialdemokraten im Verbund mit Konservativen, Liberalen und Rechten im Bundestag konsequent ab.
Es gibt noch mehr Beispiele wie etwa die zunehmend peinliche Umsetzung von Forderungen der deutschen Automobilindustrie, die wegen erwiesener Betrügereien längst auf der Anklagebank sitzt oder die Cum-Ex und Cum-Cum Geschäfte, deren Verfolgung sich bald wegen Verjährung nicht mehr lohnt. Toleriert werden auch Umsatzsteuerkarusselle, die jährlich Schäden in Milliardenhöhe verursachen und bei deren Bekämpfung die deutsche Politik jämmerlich versagt.
Die Pointe nach dieser Europawahl wird aber eine ganz andere sein. Denn bei der Besetzung von Posten spielt das Wählervotum nur eine untergeordnete Rolle. Laut EU-Vertrag entscheiden die Staats- und Regierungschefs über das Personaltableau. Das EU-Parlament hat da nur begrenzte Einflussmöglichkeiten. Und so wird wieder viel von Herkunft und Machtansprüchen abhängen. Ein weiterer Kuhhandel deutet sich an. Und der orientiert sich übrigens nicht an Talenten, fachlicher Eignung oder gar einem europäischen Zusammenhalt. Was zählt, sind nationale Interessen.
MAI
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.