Erststimme endlich abschaffen

Geschrieben von: am 26. März 2019 um 18:06

Wir brauchen dringend eine Wahlrechtsänderung. Der Bundestag ist viel zu groß. Derzeit sind es 709 Abgeordnete, künftig könnten es noch mehr werden, da weitere Ausgleichsmandate für die zunehmenden Überhangmandate der Union erforderlich werden. Das Wachstumsproblem des Bundestages ist schon lange bekannt. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte bereits in der vergangenen Legislaturperiode auf eine Änderung des Wahlrechts gedrungen, scheiterte aber mit seinem Vorschlag. Eine Lösung böte die Abschaffung der Erststimme. Sie ist unsinnig, nur schwer verständlich und daher überflüssig.

Zunächst einmal suggeriert die Erststimme dem Wähler, sie sei die wichtigere, weil sie als erstes kommt. Das klingt jetzt furchtbar einfältig, ist aber tatsächlich immer wieder erklärungsbedürftig. Denn über die Zusammensetzung des Parlaments entscheidet die Erststimme nun einmal nicht. Der Anteil der Zweitstimmen ist maßgeblich für die Sitzverteilung im Bundestag. Mit der Erststimme wird hingegen ein Direktkandidat gewählt und auch nur der Gewinner mit einem sicheren Sitz belohnt. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten entfallen.

Über die Liste gut abgesichert

Das heißt aber nicht, dass die anderen Bewerber ihr geplantes Leben als Abgeordnete an den Nagel hängen müssten. Im Gegenteil. Häufig sind viele Direktkandidaten über die jeweiligen Landeslisten ihrer Parteien so gut abgesichert, dass sie trotzdem in den Bundestag einziehen. Ein Extrembeispiel liefert mein Wahlkreis Hannover Land I. Zur Bundestagswahl 2017 traten hier sieben Kandidaten an. Fünf davon sitzen jetzt auch im Bundestag.

Hendrik Hoppenstedt (CDU) ist der direkt gewählte Abgeordnete. Caren Marks (SPD), Grigorios Aggelidis (FDP), Diether Dehm (die Linke) und Dietmar Friedhoff (AfD) bewarben sich ebenfalls um das Direktmandat, hatten aber beim Rennen um die Erststimme das Nachsehen. Die vier sind trotzdem Mitglieder des Bundestages, weil sie auf den Listen ihrer Parteien gute Plätze einnahmen und daher aufgrund des Zweitstimmenergebnisses ihrer Partei relativ problemlos den Sprung ins Parlament schafften.

Sind sie jetzt weniger Wahlkreisabgeordnete als der Sieger Hoppenstedt, der inzwischen zu Merkels Staatsminister geworden ist? Nein. Mit dem Direktmandat sind keinerlei besondere Rechten und Pflichten verbunden. Jedes Mandat, ob direkt errungen oder über die Liste verteilt, ist gleichrangig. Den Parlamentariern steht es auch frei, sich für die Belange ihrer Wahlkreise zu engagieren, obwohl sie per Definition Vertreter des gesamten Volkes zu sein haben.

Unterm Strich könnte man für den speziellen Fall des Wahlkreises Hannover Land I auch sagen, dass die Erststimmenwahl keinerlei Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages hatte, da ein Großteil der Kandidaten per Zweitstimme ohnehin gewählt worden wäre. Man hätte hier also getrost auf die Erststimme verzichten können. Generell gilt das aber auch, da die direkt gewählten Abgeordneten mit den Kandidaten auf den jeweiligen Landeslisten ihrer Parteien verrechnet werden.

Alberne Reformvorschläge

Wenn nun aber mehr Direktmandate errungen werden als nach Zweitstimmenanteil der jeweiligen Partei an Sitzen zustehen, wird es kompliziert. Es entstehen Überhangmandate, da die Gewinner der Wahlkreise auf jeden Fall einen Sitz im Parlament erhalten. Um das Kräfteverhältnis nach dem Zweitstimmenergebnis zu wahren, bekommen die anderen Fraktionen laut der Wahlrechtsreform von 2013 automatisch Ausgleichsmandate. Nachteil: Die Anzahl der Sitze des Bundestages steigt.

Nun gibt es viele Lösungsvorschläge unter Beibehaltung von Erst- und Zweitstimmen, die das Verständnis für das Wahlsystem als Ganzes aber noch schwieriger machen würden. Glaubt man Umfragen, verstehen schon heute zwischen 30 und 40 Prozent der Bürger das deutsche Wahlrecht nicht. Daher wäre beispielsweise der Vorschlag von Thomas Oppermann, noch eine dritte Stimme einzuführen, eine für den Mann, eine für die Frau und eine für die Partei der vermutlich allergrößte Unfug.

Man fragt sich, was die Verknüpfung der Wahlrechtsdiskussion mit dem Frauenanteil eigentlich soll. Für die Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten sind doch die Parteien selbst verantwortlich. Wenn sie Männer bevorzugen, müssen sie halt weiterhin mit der Kritik leben. Als es nach der Bundestagswahl um die Verteilung von Posten ging, wurde Thomas Oppermann mit dem Amt des Bundestagsvizepräsidenten bedacht, obwohl zuerst zwei Kandidatinnen zur Verfügung standen und die SPD eigentlich junge, weibliche und unverbrauchte Gesichter nach vorne rücken wollte.

Mehr Stimmen bringen da jedenfalls keine Lösung und sie ändern auch nichts an dem armseligen wie blamablen Postengeschacher, bei dem die fachliche Eignung eine noch geringere Rolle spielt, als das Geschlecht. Aus diesem Grund wäre der Vorschlag zu einer Stimme im Wahlrecht zurückzukehren, mit der sowohl der Wahlkreiskandidat als auch die jeweilige Partei gewählt würde, der sinnvollste und einfachste Weg. Das gab es bereits bei der ersten Bundestagswahl 1949.

Änderung der Geschäftsordnung

Allerdings sind auch mit nur einer Stimme Überhangmandate weiterhin möglich, weil die größeren Parteien tendenziell immer seltener gewählt werden. Das heißt, man hätte immer noch das Problem, dass CDU und CSU nahezu alle Wahlkreise gewinnen, aber bei weitem nicht auf 50 Prozent Zustimmung kommen. Eine Verringerung der Wahlkreise könnte da vielleicht die Lösung bringen. Ganz unumstritten ist aber auch das nicht.

Alternativ könnte man aber auch solche Abgeordnete einfach aus dem Bundestag schmeißen, die durch allerlei Nebentätigkeiten auffallen und sich damit eher ausgewählten Einzelbelangen verbunden fühlen, als den Interessen der Allgemeinheit. Sie wären mit einem Lobbyistenausweis vielleicht besser bedient, als mit dem Abgeordnetenmandat.

„Von den 709 Bundestagsabgeordneten verfügen 154 über bezahlte Nebentätigkeiten, also mehr als jeder fünfte Parlamentarier. In vielen Fällen ergeben sich daraus potentielle Interessenkonflikte.“

Quelle: abgeordnetenwatch

Fielen diese Abgeordneten weg, wäre der Bundestag sogar kleiner als die bekannte Sollgröße von 598. Natürlich ist das eine Spinnerei, wie die Diskussion um das Wahlrecht übrigens auch, die schon wieder in einer Sackgasse zu enden droht. Es wird sich vermutlich nichts ändern, weil die Interessen der Parteien eine noch viel größere Rolle spielen. Dann sollte es aber wenigstens eine Änderung der Geschäftsordnung geben.

„Wie wäre es mit einer kleinen Änderung der Bundestagsgeschäftsordnung? Ab sofort nennt jeder Redner im Bundestag zu Beginn seiner Wortmeldung nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Nebentätigkeiten und Beraterverträge. Die Auflistung geht von der Redezeit ab. Wenn noch etwas übrig ist, darf er reden. Das würde uns helfen, den tieferen Sinn der Rede besser zu verstehen.“

Georg Schramm, in: „Lassen Sie es mich so sagen…“, Seite 140

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Jan-Peter Brodersen  März 27, 2019

    Wenn eine Stimme abgeschafft werden muss, dann ist es die Zweitstimme. Diese wurde von den Schoepfern des GG explizit nicht gewollt siehe die Protokolle des Parlamentarischen Rates und so steht es acuh immer noch im Grundgesetz.
    Die Parteiendiktatur hat sih diesen Staat voll und ganz zur Beute gemacht.

    • André Tautenhahn  März 27, 2019

      Welche Stimme abgeschafft wird, ist im Prinzip egal. Entscheidend ist, dass der Wähler mit der einen Stimme den Wahlkreiskandidaten und dessen Partei wählt und nicht mehr die Möglichkeit hat, einen Kandidaten zu wählen und dann eine ganz andere Partei. Ich habe explizit von der Abschaffung der Erststimme geschrieben, weil sie 1953 auf Betreiben der FDP hin zusätzlich eingeführt worden ist. Die heutige Zweitstimme ist im Prinzip die Urstimme, wenn Sie so wollen und auch immer noch die, auf die es ankommt. Die Erststimme ist weitgehend wirkungslos.

  2. Jörg Wiedmann  März 29, 2019

    Eine Änderung des Wahlrechts ist mehr als überfällig. Das Problem sind nicht die Direktmandate sondern die Listen der Parteien auf welche der Wähler keinerlei Einfluss hat. Man könnte -überspitzt- sagen das nur ein Teil der Abgeordneten -die Direktkandidaten- wirklich demokratisch gewählt wurden der Rest von den Parteien sozusagen bestimmt wurde. Und das ist auch das große Problem. Um auf der Liste einen guten Platz zu bekommen muss man ein strammer „Parteisoldat“ sein und im Bundestag auch immer schön nach „Parteilinie“ -und nicht wie von GG vorgesehen nach Gewissen- abstimmen sonst hat sich das ganz schnell mit dem guten Listenplatz..
    Herr Willsch von der CDU ist ein gutes Beispiel. Herr Willsch war finanzpolitscher Sprecher der CDU und gegen die Griechenlandrettung sowie die Vergemeinschaftung der Schulden und hat auch im Bundestag gegen die CDU Linie gestimmt. Resultat: Herr Willsch ist nicht mehr finanzpolitischer Sprecher und ist heute nur noch im Bundestag weil er eben das Direktmandat im seinem Wahlkreis gewonnen hat.
    Da muss man sich nicht wundern das im Bundestag nur noch Abnicker sitzen.
    Man könnte sogar die Listen demokratisch gestalten und nicht nach Parteiproporz z.B. in dem die Listen nicht von den Parteien aufgestellt werden, sondern einfach die Kandidaten einer Partei die in ihrem Wahlkreis nicht das Direktmandat bekommen haben, aber prozentual die meisten Stimmen für die Partei -im entsprechenden Bundesland- geholt haben auf der Landesliste Platz 1 , 2 usw belegen.
    Da werden die Parteien aber wohl kaum mitmachen und auch das Problem mit den Überhangs bzw Ausgleichsmandaten wäre dadurch nicht gelöst.
    Ich persönlich bevorzuge sowieso das Mehrheitswahlrecht. 600 Wahlkreise – 600 Abgeordnete – Problem gelöst.
    Das darunter die „kleinen“ Parteien möglicherweise leiden ist nicht von der Hand zu weisen, muss aber nicht zwingend so sein.
    Auch wenn das britische Parlament im Moment als „Chaostruppe“ bezüglich des Brexit erscheinen mag, das nenne ich ein Parlament. Die Abgeordneten stimmen eben so ab wie sie es für richtig halten und nicht wie die Regierung bzw die Parteien es wollen. In Deutschland hätte es keine Debatten gegeben sondern die Regierung hätte über den Fraktionszwang dafür gesorgt das das Ergebniss passt.
    Kann man gut (oder besser) finden- muss es aber nicht zwangsläufig.

    • André Tautenhahn  März 31, 2019

      Das Problem sind nicht die Direktmandate sondern die Listen der Parteien auf welche der Wähler keinerlei Einfluss hat.

      Das halte ich nicht für überzeugend. Auf die Nominierung der Direktkandidaten hat der Wähler auch keinen Einfluss.

      Um auf der Liste einen guten Platz zu bekommen muss man ein strammer “Parteisoldat” sein und im Bundestag auch immer schön nach “Parteilinie” -und nicht wie von GG vorgesehen nach Gewissen- abstimmen sonst hat sich das ganz schnell mit dem guten Listenplatz.

      Nö. Parteisoldaten haben es generell leichter, entweder vordere Listenplätze zu belegen oder als Direktkandidat nominiert zu werden, da für beides ein Votum der jeweiligen Parteibasis erforderlich ist.

      Ich persönlich bevorzuge sowieso das Mehrheitswahlrecht. 600 Wahlkreise – 600 Abgeordnete – Problem gelöst.

      Das ist die denkbar schlechteste Alternative, weil damit alle Wählerstimmen verfallen, die nicht beim Wahlkreissieger gelandet sind.

      Auch wenn das britische Parlament im Moment als “Chaostruppe” bezüglich des Brexit erscheinen mag, das nenne ich ein Parlament. Die Abgeordneten stimmen eben so ab wie sie es für richtig halten und nicht wie die Regierung bzw die Parteien es wollen.

      Falsch, die Abgeordneten stimmen eben nicht so ab, wie sie es für richtig halten, sondern welcher politischer Vorteil sich möglicherweise ergibt. Das ist ja das Dilemma. Dreimal wird der Brexit-Deal abgelehnt, die gescheiterte Regierung aber gleichzeitig per Votum im Amt gehalten, einmal von den eigenen Leuten und einmal im Parlament per Misstrauensvotum der Opposition. Das ist schizophren.

      In Deutschland hätte es keine Debatten gegeben sondern die Regierung hätte über den Fraktionszwang dafür gesorgt das das Ergebniss passt.

      Der Fraktionszwang ist doch dabei nicht das Problem, sondern die Haltung von Parteien, die sich mit der Durchsetzung neoliberaler Politik arrangiert haben und dennoch so tun, als unterschieden sie sich voneinander.

      • Jörg Wiedmann  April 1, 2019

        Welcher Direktkandidat nominiert wird ist nicht entscheidend. Entscheidend ist das der Direktkandiat sich dem Wählervotum im Wahlkreis stellen stellen und dort die Wähler überzeugen muss um gewählt zu werden. Die Kandidaten die auf den Listen die „sicheren“ vorderen Plätze einnehmen sind ja schon in Parlament wenn lediglich die fünf Prozenthürde erreicht wurde. Das heißt diese Leute haben ihren Platz im Bundestag schon vor der Wahl quasi sicher und müssen sich auch nicht mit dem Wähler „auseinandersetzten“ .
        Einfach formuliert: Einem Direktkandidaten einer Partei denn ich nicht überzeugend finde kann ich meine Stimme verweigern einem Kandidaten auf der Liste -sicherer Platz- eben nicht.
        Und das ist in meinen Augen schon ein Unterschied.
        Ob Mehrheitswahlrecht oder Verhältnisswahlrecht ist Geschmackssache.
        Ich mag eben das „the winner takes it all“ Prinzip weil es klar und eindeutig ist.
        Auf das britische Parlament bin ich deswegen gekommen, weil eben die Abgeordneten der Regierungsparteien -die ja eine knappe Mehrheit haben- eben NICHT einfach stur der Regierung folgen sondern Ihre eigene Position -die sie auch gegenüber ihren Wählern in ihrem Wahlkreis vertreten müssen- haben.
        Und bei Mehrheitswahlrecht ist der eigene Wahlkreis eben wesentlich wichtiger.
        Ob die Parteien jetzt neoliberale Politik machen oder so tun als ob sie sich unterscheiden würden hat mit dem Fraktionszwang nichts zu tun. Ebenso die Haltung der Parteien.
        Es geht alleine darum, das es eben im Bundestag genügend Abgeordnete gibt die lediglich der Partei -Listenplatz- verpflichtet sind und der Wähler diese Abgeordneten niemals abwählen kann.
        Nur deshalb lässt sich der Fraktionszwang auch durchsetzen.
        Jeder muss selbst entscheiden ob er Probeabstimmungen der Fraktionen im Bundestag vor wichtigen Abstimmungen demokratisch und mit dem GG vereinbar findet oder eben nicht.
        In meinen Augen hat das auch für eine repräsentative Demokratie mit Demokratie nicht viel zu tun.

        • André Tautenhahn  April 1, 2019

          Welcher Direktkandidat nominiert wird ist nicht entscheidend. Entscheidend ist das der Direktkandiat sich dem Wählervotum im Wahlkreis stellen stellen und dort die Wähler überzeugen muss um gewählt zu werden.

          Nö, die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass die Kandidaten der Union gewinnen. 231 der insgesamt 299 Wahlkreise hat sie 2017 geholt, das sind 77 Prozent. Die Union hätte nach ihrem Vorschlag also eine gigantische verfassungsändernde Mehrheit, wenn wir jetzt nur die 299 Wahlkreise betrachten. Das Bild würde vermutlich aber nicht wesentlich anders aussehen, wenn wir 598 oder 600 Wahlkreise hätten.

          Die Kandidaten die auf den Listen die “sicheren” vorderen Plätze einnehmen sind ja schon in Parlament wenn lediglich die fünf Prozenthürde erreicht wurde.

          Das ist ja auch der Sinn von Listen. Der Wähler kann aber auch andere Parteien wählen, wenn ihm das Personal nicht passt.

          Das heißt diese Leute haben ihren Platz im Bundestag schon vor der Wahl quasi sicher und müssen sich auch nicht mit dem Wähler “auseinandersetzten” .

          Das stimmt so nicht, wie meine Erfahrung als Lokaljournalist zeigt. Wahlkampfveranstaltungen und „Wählerbelästigung“ ;-) gibt es wahrlich genug.

          Einem Direktkandidaten einer Partei denn ich nicht überzeugend finde kann ich meine Stimme verweigern einem Kandidaten auf der Liste -sicherer Platz- eben nicht.

          Das spielt aber keine Rolle, weil ihre Stimme nicht mehr zählt, wenn der Kandidat, den sie nicht wollen, eine einfache Mehrheit erreicht und damit ins Parlament einzieht.

          Ich mag eben das “the winner takes it all” Prinzip weil es klar und eindeutig ist.

          Sie können das Prinzip ja mögen, aber klar und eindeutig ist es eben nicht, wenn ein Großteil der Stimmen unter den Tisch fällt. Gerade das britische Wahlsystem zeigt das überdeutlich. Da gewinnen Kandidaten mit einer kleinen relativen Mehrheit, obwohl Zweidrittel der Wähler des Wahlkreises gar nicht für den Sieger gestimmt haben.

          Auf das britische Parlament bin ich deswegen gekommen, weil eben die Abgeordneten der Regierungsparteien -die ja eine knappe Mehrheit haben- eben NICHT einfach stur der Regierung folgen sondern Ihre eigene Position -die sie auch gegenüber ihren Wählern in ihrem Wahlkreis vertreten müssen- haben.

          Das ist ein Märchen. Den Fraktionszwang gibt es auch im Unterhaus. Die Brexit-Debatte bildet allerdings eine Ausnahme. Die hat nur rein gar nichts mit den Wählern im Wahlkreis zu tun. Noch einmal: Auch in UK werden Abweichler dadurch bestraft, dass sie von der Partei entweder bei Posten übergangen oder aber nicht mehr im Wahlkreis aufgestellt werden.

          Und bei Mehrheitswahlrecht ist der eigene Wahlkreis eben wesentlich wichtiger.

          Wäre das so, würde sich das Unterhaus nicht seit Monaten mit der Brexit-Debatte blamieren. Oder anders herum, wenn die Brexit-Debatte beweisen soll, wie wichtig den Abgeordneten der eigene Wahlkreis ist, na dann gute Nacht. Denn auf diese Weise kommen nämlich gar keine brauchbaren Entscheidungen mehr zustande, weil jeder nur die Interessen seines Wahlkreises verfolgt.

          Es geht alleine darum, das es eben im Bundestag genügend Abgeordnete gibt die lediglich der Partei -Listenplatz- verpflichtet sind und der Wähler diese Abgeordneten niemals abwählen kann. Nur deshalb lässt sich der Fraktionszwang auch durchsetzen.

          Abgeordnete können weder in dem einen noch in dem anderen Fall abgewählt werden. Sie sind für die Dauer einer Legislaturperiode gewählt. Es spielt ausdrücklich keine Rolle, ob sie das Mandat per Erststimme oder über Listenverteilung erzielt haben. Jedes Mandat ist gleichwertig. Es wird allerdings gern so getan, als sei das Direktmandat höherwertig. Aber das ist Unfug. Sie behaupten, ein Fraktionszwang lässt sich nur mit Listenkandidaten durchsetzen. Die Union verfügt über 231 Direktmandate und 15 Listenmandate, Abweichungen von der Fraktionsdisziplin sind eher selten. Die SPD hat 58 Direktmandate und 94 Listenmandate, Abweichungen von der Fraktionslinie gibt es verbal zwar häufiger, aber die Regierung hat noch keine Abstimmung verloren. Wer sich gegen die Fraktion stellt, wird „bestraft“ oder wirft selbst das Handtuch. Dafür gibt es auch Beispiele wie zuletzt Marco Bülow, der erst die Fraktion und dann die SPD verlies. Der begründete seinen Austritt aber nicht mit dem Wahlkreis, für den er direkt gewählt im Bundestag saß, sondern mit wenig Einfluss auf die herrschende Politikagenda, gegen die man als einzelner Abgeordneter oder als Parteimitglied nicht mehr ankomme. Auch eine andere Politik braucht nämlich Mehrheiten. Zu glauben, dass gelinge allein dadurch, indem man auf Mehrheitswahlrecht umstellt, ist naiv, da viele Stimmen u.U. gar nicht zählen und sehr wenige dagegen mehr.

          Jeder muss selbst entscheiden ob er Probeabstimmungen der Fraktionen im Bundestag vor wichtigen Abstimmungen demokratisch und mit dem GG vereinbar findet oder eben nicht.

          Das Grundgesetz hat damit überhaupt nichts zu tun. Wie sich der Bundestag organisiert ist im Abgeordnetengesetz und der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt. Um den Mythos noch einmal zu entkräften. Es gibt kein Gesetz, das einen Fraktionszwang vorschreibt. Jeder Abgeordnete ist durch Artikel 38 GG formal geschützt. Es ist aber richtig, dass die einzelnen Fraktionen für sich und die Regierungsfraktionen in einem Koalitionsvertrag gesondert vereinbaren, immer einheitlich abzustimmen. Wer dagegen verstößt, macht sich aber keinesfalls strafbar, kann aber aus der Fraktion ausgeschlossen werden. Das wäre aber kein Problem, wenn es genügend Abgeordnete gebe, die sich eine bestimmte Politiklinie ebenfalls nicht bieten lassen würden. Sie könnten eine eigene Gruppe oder Fraktion bilden.
          Im Übrigen kann die Union auch andere Vereinbarungen des Koalitionsvertrages brechen, ohne dass der Partner SPD Konsequenzen daraus zöge. Das liegt aber eben nicht daran, dass es zu wenig direkt gewählte Abgeordnete gebe, die sich das nicht bieten lassen würden. Zu den Probeabstimmungen ist zu sagen, dass das britische Unterhaus in der letzten Woche gerade acht Probeabstimmungen vollzogen hat. ;-)

          • Jörg Wiedmann  April 2, 2019

            Hallo Herr Tautenhahn,
            ich glaube wir diskutieren ein wenig aneinander vorbei oder ich habe mich ein wenig missverständlich ausgedrückt. Deshalb nochmals in aller Kürze.
            Der Fraktionszwang ist im GG nicht vorgesehen -wie Sie selbst schreiben- und deshalb lehne ich den Fraktionszwang als nicht demokratisch ab. Ebenso Probeabstimmungen.
            Ein Koalitionsvertrag ist ebenfalls im GG nicht vorgesehen.
            Was dieser Koalitionsvertrag wert ist sehen wir ja gerade bei der Urheberrechtsreform. :-)
            Aber die SPD Basis durfte ja über diesen Koalitionsvertrag abstimmen. :-)))

            Zitat: “ Das heißt diese Leute haben ihren Platz im Bundestag schon vor der Wahl quasi sicher und müssen sich auch nicht mit dem Wähler “auseinandersetzten” .
            Das stimmt so nicht, wie meine Erfahrung als Lokaljournalist zeigt.“

            Das Sie Ihren Platz im Bundestag schon sicher haben dürfte unstrittig sein – das Sie die Wähler trotzdem „belästigen“ ist durchaus vorstellbar spielt für die Wahl aber absolut keine Rolle. .-)

            Zitat: „Abgeordnete können weder in dem einen noch in dem anderen Fall abgewählt werden. “
            Völlig richtig, abwählen war falsch ausgedruckt ich meinte eigentlich nicht wiederwählen.
            Nochmals was mich an meisten stört ist das der Wähler keinen Einfluss auf die Listen der Parteien hat und somit zwangsläufig Kandidaten wählen muss die von den Parteien auf die besten Plätze gesetzt wurden.
            Demokratisch wäre wenn die Parteien für jeden Wahlkreis -in einem Bundesland- einen Kandidaten aufstellen.
            Der Kandidat der für die Partei die meisten Stimmen im Wahlkreis gewonnen hat -aber nicht das Direktmandat- zieht als erster Abgeordneter dieses Bundeslandes in den Bundestag ein. Der Kandidat mit den zweitmeisten Stimmen als zweiter usw.
            Das heißt der Wähler bestimmt die Reihenfolge und nicht die Partei.

            Zitat: “ Wer sich gegen die Fraktion stellt, wird “bestraft” oder wirft selbst das Handtuch.“
            Finden Sie das gut ?

            Zitat: „Zu den Probeabstimmungen ist zu sagen, dass das britische Unterhaus in der letzten Woche gerade acht Probeabstimmungen vollzogen hat. ;-)“
            Ja, aber in der Öffentlichkeit -sogar live im Fernsehen :-) – und nicht im Fraktionskämmerchen um zu gewährleisten das man sich bei der Abstimmung im Bundestag -live bei Phönix TV- nicht „blamiert“ .-)
            Da sind wir Deutschen schon etwas schlauer. :-)))

            Ich denke letztendlich sind wir uns darin einig, das sich beim Wahlrecht etwas ändern muss. :-)
            Schönen Tag noch.
            Und sorry, das meine Beiträge nicht restlos durchgegendert sind. :-))

          • André Tautenhahn  April 2, 2019

            Der Fraktionszwang ist im GG nicht vorgesehen -wie Sie selbst schreiben- und deshalb lehne ich den Fraktionszwang als nicht demokratisch ab.

            Darüber kann man streiten. Wie ich schon schrieb, benötigt man eine parlamentarische Mehrheit, um vernünftig regieren zu können. So gesehen ist es sinnvoll, wenn sich die Abgeordneten der Regierungsfraktionen auf ein Programm verständigen und dieses dann auch umsetzen. Daher richtet sich meine Kritik am parlamentarischen System nicht gegen den Fraktionszwang, sondern gegen politische Programme, die das Weiter so beinhalten und den neoliberalen Zeitgeist fortschreiben, obwohl von den Akteuren ständig das Gegenteil behauptet wird, siehe „Starke-Familien-Gesetz“, „Gute-Kita-Gesetz“ und „Respekt-Rente“. Was ändert sich denn an der Politik, wenn es keinen Fraktionszwang gebe? Zunächst einmal rein gar nichts, von einem möglichen Kasperletheater wie im Unterhaus derzeit einmal abgesehen. Wenn Sie sich auf den Koalitions- oder Fraktionszwang konzentrieren, legitimieren Sie im Grunde auch das Gejammer der SPD, die ständig darauf hinweist in der GroKo dies und das leider nicht machen zu können.

            Nochmals was mich an meisten stört ist das der Wähler keinen Einfluss auf die Listen der Parteien hat und somit zwangsläufig Kandidaten wählen muss die von den Parteien auf die besten Plätze gesetzt wurden.

            Der Wähler wird zu nichts gezwungen und ja es stimmt, dass die Parteien bei ihrer Kandidatenauslese auf Karrieren achten. Das ist ein Problem, mit dem aber die Mitglieder fertigwerden müssen. Wenn die beispielsweise eine SPD wollen, die sich glaubwürdig für den Sozialstaat einsetzt, sollte man eben nicht Andrea Nahles zur Parteichefin wählen oder Agenda-Scholz zu ihrem Stellvertreter oder einem Koalitionsvertrag mit der Union zustimmen, der so ambitionslos ist, wie ein Sack mehligkochender Kartoffeln.

            Der Kandidat der für die Partei die meisten Stimmen im Wahlkreis gewonnen hat -aber nicht das Direktmandat- zieht als erster Abgeordneter dieses Bundeslandes in den Bundestag ein. Der Kandidat mit den zweitmeisten Stimmen als zweiter usw.
            Das heißt der Wähler bestimmt die Reihenfolge und nicht die Partei.

            Das gibt es schon und nennt sich offene oder freie Liste. Allerdings existiert das bisher nur auf Landesebene und im kommunalen Bereich. Hier können sie Kandidaten direkt wählen und bis zu drei Stimmen verteilen. Das wird schwierig auf Bundesebene. Ich bin absolut nicht dafür, sondern für das Prinzip der einen Stimme, die dann auch jeder kapiert.

            Zitat: ” Wer sich gegen die Fraktion stellt, wird “bestraft” oder wirft selbst das Handtuch.”
            Finden Sie das gut ?

            Nein, aber so sind nun einmal die Spielregeln, die sich nicht dadurch ändern, in dem man auf offene Listen setzt. Die Parteien wählen dann immer noch ihre Kandidaten selbst aus. Da drehen wir uns halt im Kreis. Ich meine, die Mitglieder der Parteien haben es in der Hand, Sie meinen, der Wähler könnte Einfluss nehmen. Das stimmt aber nicht. Er bekommt immer nur die Kandidaten vorgesetzt, die die Parteien auswählen.

            Ja, aber in der Öffentlichkeit -sogar live im Fernsehen :-) – und nicht im Fraktionskämmerchen um zu gewährleisten das man sich bei der Abstimmung im Bundestag -live bei Phönix TV- nicht “blamiert” .-) Da sind wir Deutschen schon etwas schlauer. :-)))

            Vielleicht mal zum Hintergrund. Das britische Unterhaus ist quasi die Urmutter der parlamentarischen Demokratie. Davon leiten sich alle anderen parlamentarischen Demokratien mehr weniger ab. Die Deutschen sind da nicht schlauer oder dümmer. In beiden Häusern gibt es die Einpeitscher, die Abweichler bearbeiten und den Fraktionszwang. Wenn hier ein Abgeordneter nicht nach Fraktionslinie abstimmt, macht er das in der Regel auch öffentlich und erläutert seine Gründe. Was ist verkehrt daran, per Probeabstimmung zu testen, ob die Schäfchen brav sind? Trotz Probeabstimmung kann es dann trotzdem ganz anders kommen, wie die gescheiterten Versuche einer Ministerpräsidentenwahl in Schleswig-Holstein und Hessen zeigen.

            Ich denke letztendlich sind wir uns darin einig, das sich beim Wahlrecht etwas ändern muss. :-)

            Ja, aber ich teile Ihr Plädoyer für das Mehrheitswahlrecht überhaupt nicht.