Wer entscheidet eigentlich in einer Demokratie? Diese Frage ist gerade heute wieder wichtig. In London versucht die britische Premierministerin Theresa May ein Brexit-Abkommen durch das Parlament zu bekommen. Die Abstimmung darüber hatte sie bereits einmal verschoben, weil offensichtlich war, dass es keine Mehrheit dafür geben würde. Heute ist das nicht anders. Alle wissen das, auch diejenigen, die auf EU-Seite dieses Abkommen verhandelt haben und sich weiterhin stur stellen. Sie sagen, die Vereinbarung könne ja nicht mehr verändert werden. Es gibt aber nun einmal keinen Deal ohne Zustimmung des Parlaments.
May hat heute immer noch keine Mehrheit bei ihren eigenen Leuten. Deshalb müsse jetzt die Stunde der Opposition schlagen, meint daher der Leiter des Spiegel Hauptstadtbüros in seinem morgendlichen Kaffeegeschwätz. Die Opposition in Großbritannien wird angeführt von Jeremy Corbyn, einem Linken, der vom Spiegel-Mann mal eben zum Geisterfahrer abgestempelt wird, weil er nicht die nötigen Stimmen für eine Mehrheit organisiert. Eine seltsame Vorstellung von Demokratie ist das, die sich der Journalist da zurechtgebastelt hat.
Sie wird offenbar von der irrigen Annahme einer staatspolitischen Verantwortung getragen, die eine SPD hierzulande in drei Große Koalitionen unter Merkel und damit an den Rand der Bedeutungslosigkeit geführt hat. Was Leute wie Michael Sauga vom Spiegel, aber auch Stefan Kornelius von der Süddeutschen Zeitung offenbar nie kapieren werden, ist die Tatsache, dass Parlamente eben nicht die Abnickerbuden der Regierungen sind und die Opposition eben nicht der Mehrheitsbeschaffer in der Not, um einen Karren aus dem Dreck zu holen, den andere da hineingesteuert haben.
Jeremy Corbyn bezeichnet man nun als Geisterfahrer, weil er die Chance wahrnehmen möchte, eine fürchterliche Regierung endlich abzulösen, die den ganzen Schlamassel zu verantworten hat. So herablassend können nur deutsche Edel-Journalisten urteilen, die seit Jahren darin versagen, eine ähnlich katastrophale Regierungsbilanz hierzulande der Gott-Kanzlerin in Rechnung zu stellen. Die darf den Rekord des Dicken in aller Seelenruhe auch noch einstellen, während die deutsche Hauptstadtpresse sich lieber darüber den Kopf zerbricht, welche Rolle Friedrich Merz künftig unter oder neben der neuen CDU-Chefin einnehmen wird.
For the many not the few
Corbyn will an die Regierung und nicht nur bloß so tun, wie seine peinlichen Pendants von der SPD. Er will etwas verändern und seinen Wählern nicht ständig vorjammern, dass es mit den anderen leider nicht geht. Er ist auch der Ansicht, einen besseren Deal mit der EU aushandeln zu können, was besser ist, als ein Abkommen nur deshalb zu akzeptieren, weil es als unveränderbar bezeichnet wird. Corbyn achtet die Rechte des Parlaments und sagt damit auch, dass es mit ihm eine „Friss oder Stirb Politik“ nicht mehr geben soll. Er will vor allem weg vom Neoliberalismus und ein Programm für die Vielen nicht die Wenigen.
Die EU hat selbst ja auch nichts von dieser Politik und vor allem davon, wenn dadurch Großbritannien ohne irgend eine Regelung die Gemeinschaft verlässt. Deshalb werden bereits weitere Zusicherungen in Aussicht gestellt, aber dennoch betont, dass am Abkommen selbst nichts mehr verändert werden könne. Das ist Geisterfahrerei, nicht die Weigerung der Opposition, bei diesem albernen Kindergartenspiel auch noch mitzumachen und eine gescheiterte Regierung damit das Überleben zu sichern. Wer Demokratie ernst nimmt, sollte das Streben nach einem Regierungswechsel nicht verurteilen.
JAN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.