Was liest man in den Kommentaren zum Weihnachtsfest? Vor allem wieder ein Klagelied darüber, wie schlimm die Welt doch geworden ist. Daher sollen wir wieder mehr miteinander reden oder streiten, empfiehlt der Bundespräsident. Das helfe dann vermutlich gegen die bösen „Entwicklungen“, die überall auf der Welt zu beobachten seien und vor denen auch Deutschland letztlich nicht sicher sei. Schlimm, schlimm. Nur warum das mit diesen „Entwicklungen“ so ist, bleibt einmal mehr ausgespart. Das ist richtig schlimm.
Worüber regt sich die Berliner Puppenkiste derzeit auf? Über Sahra Wagenknecht zum Beispiel, die eine gelbe Weste angezogen und sich damit vor das Kanzleramt gestellt hat. Sie solidarisiere sich mit Antisemiten und Rechten, so der Vorwurf. Das muss wohl auf der gelben Weste stehen, denn im Video selbst spricht sie über soziale Probleme, die es im nächsten Jahr endlich zu lösen gelte, notfalls auch mit dem Protest auf der Straße vor dem Kanzleramt.
Das Gesagte spielt aber wie so oft keine Rolle bei der umgehenden Verurteilung durch die Medien, mehr die eigene sonderbare Wahrnehmung, mit der auch schon Claas Relotius sehr erfolgreich war. Dabei kann man Wagenknecht nur vorwerfen, zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt zum Protest aufgerufen zu haben. An Weihnachten haben die Leute vermutlich ganz andere Dinge im Kopf oder Magen.
Zum Nachdenken ist aber nie die falsche Zeit, vor allem dann nicht, wenn der Bundespräsident seine Botschaft spricht. Man solle wieder mehr miteinander reden. Denn: „Ich habe den Eindruck, wir Deutsche sprechen immer seltener miteinander.“ Das sei dann auch der Grund für „solche Entwicklungen“, wie es sie in Frankreich, Großbritannien oder in den USA gebe.
So so. Alles nur ein Kommunikationsproblem, wie originell vom Agenda-Mann der SPD, der mittlerweile den präsidialen Grußaugust mimt.
Bundespräsident fordert wieder mehr Lametta
Es muss daher wohl abgesprochen sein, wenn ausgerechnet Steinmeiers Mutterschiff den wohl unpassendsten Tweet des Weihnachtsfestes verfasst. „Erst essen wir, dann reden wir über die SPD-Gesetze, die am 1.1.2019 in Kraft treten – und dann machen wir es uns gemütlich.“ Der Antwort von Ulrich Schneider ist nichts hinzuzufügen. Er erinnert an Regelsätze und Armut in diesem Land, an der auch ins nächste Jahr abgeschobene SPD-Gesetze kaum etwas ändern.
Mit maximal 4,80 Euro am Tag für Verpflegung in Hartz IV können leider nicht alle heute mit Gans, Klöße, Rotkohl und Wein über all die Gesetze plaudern, die die @spdde fürs nächste Jahr abgeschoben hat … Sorry
— Ulrich Schneider (@UlrichSchneider) December 24, 2018
Und auch das Staatsoberhaupt wünscht sich:
Mehr Lametta, aber bloß kein Protest, könnte man sagen. Steinmeier denkt offenbar eher an Weihnachten bei Hoppenstedts und an die Nachbarn, die durch die Explosion des Atomkraftwerks, die Marschmusik und das Geschenkpapier in ihrer Ruhe gestört werden. Doch darum geht es in der Gegenwart überhaupt nicht. Steinmeier hätte vielleicht Margot Käßmann zuhören sollen:
Käßmann spricht von Armut, Steinmeier fällt dazu überhaupt nichts ein, obwohl er doch ein paar Tage zuvor Essen an Bedürftige ausgab. Käßmann spricht vom Hinschauen, Steinmeier schimpft wie der Meinungsmainstream auch lieber über die sozialen Medien, in denen täglich lärmend gegiftet werde und kritisiert bei Gelegenheit noch diejenigen, die es vorziehen zu schweigen.
Palaver ist keine Lösung
Ihm schweben wohl geordnete Diskussionen vor, wie zuletzt im „Debattencamp“ der SPD, was im Nachgang allerdings nur als ein folgenloses Großpalaver im Funkhaus Berlin bezeichnet werden kann. Denn die SPD fühlt sich an erster Stelle der GroKo verpflichtet, nicht den Menschen, die unter der Fortsetzung der neoliberalen Agenda, des sozialen Kahlschlags und der Armut zu leiden haben.
Margot Käßmann hat da immerhin einen Zusammenhang erkannt. Die gespaltene Gesellschaft und der Protest sind Folgen einer Politik, für die Regierungen und damit auch Sozialdemokraten Verantwortung tragen. Deshalb mahnt sie zum Hinsehen und vielleicht mehr noch zu einer Veränderung des politischen Handelns, statt sich über eine Verrohung der Sitten in den sozialen Netzwerken zu empören und zu glauben, dass dagegen ein allgemeines Palaver hülfe.
Wenn sie jetzt noch eine gelbe Weste trüge, der Shitstorm wäre ihr wohl gewiss, wie bei Sahra Wagenknecht. Das ist ja der Witz. Die journalistischen Leuchten, die sich über ihren Auftritt in der gelben Weste echauffieren, sind auch diejenigen, die sich über das unqualifizierte und beleidigende Gequatsche auf Facebook ständig beschweren. Sie sollten in den Spiegel schauen und sich fragen, ob nicht auch sie dazu beitragen, dass es „solche Entwicklungen“ überhaupt gibt.
Ein Recherche- und Empörungstipp
Der deutsche Städte- und Gemeindebund beklagt eine „Vollkaskomentalität“ und fordert daher eine tiefgreifende Reform des Sozialstaats, offenbar nach dem Modell der FDP. Der Staat könne ja nur das verteilen, was er vorher den Bürgern über Steuern und Abgaben entzogen habe. Was soll das heißen? Dass die gestohlenen Steuermilliarden der Reichen durch Cum-Ex und Cum-Cum bereits abgeschrieben sind und der Rest der Gesellschaft durch weiteren Verzicht auf öffentliche Leistungen dafür bezahlen soll?
Sprachlosigkeit heißt Stillstand, hat der Bundespräsident gesagt. Ganz genau! Reden wir also über den obszönen Reichtum, der sich mit freundlicher Unterstützung der Politik immer noch ungebremst vermehren darf. Ich bin gespannt auf die Beiträge von Kollegen und Genossen, wenn die ihre Gänsekeulen verdaut und den Rausch des Weines hinter sich gelassen haben, also wieder nüchtern sind.
DEZ
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.