Ein Ergebnis der Kanzlerschaft Angela Merkels ist die Proklamation der marktkonformen Demokratie im Jahr 2011. Damals sagte sie:
„Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.”
Mit „marktkonform“ sei also nicht gemeint gewesen, dass die Demokratie zum Spielball der Märkte würde, sondern im Gegenteil, dass die Arbeit des Parlaments so ausgerichtet werden müsse, damit es die Märkte überhaupt beeinflussen könne. So interpretierten das jedenfalls die klugen FAZ-Köpfe im Jahr 2012. Und heute? Schauen wir mal in „Die Lage“, das Morning Briefing auf Spiegel Online. Da steht:
„Apropos Europa: Heute läuft die Frist ab, die die EU-Kommission Italien gegeben hatte, um seine Haushaltspläne den Stabilitätskriterien der Eurozone anzupassen. „Italien muss jetzt liefern“, heißt es in der Kommission. Doch niemand rechnet damit, dass Rom dazu bereit ist. Es dürfte also auf Strafmaßnahmen gegen Italien hinauslaufen, die EU steuert auf einen Großkonflikt zu. In Brüssel und Berlin hofft man darauf, dass die Märkte die italienische Regierung zur Vernunft bringen werden. Doch ist das mehr als ein frommer Wunsch? Hat etwa schon mal ein Stop-Schild einen Amokfahrer aufgehalten?“
Das ist eigentlich ungeheuerlich, für wie selbstverständlich es Medien, aber auch vermeintlich progressive Politiker inzwischen halten, dass die Märkte einer Regierung und einem Volk schon zeigen werden, wo es langgeht. Zur Vernunft bringen, ist dabei die hübsche Umschreibung für einen Vorgang, der nichts anderes als eine Drohung ist. Dieses Politikverständnis hat die jetzige italienische Regierung, über die alle schimpfen, überhaupt erst ins Amt gebracht. Denn ihre Vorgänger haben alle Vorgaben aus Brüssel und Berlin immer brav erfüllt, so bescheuert und schädlich sie auch waren.
Nun hat die bizarre Vorstellung von Vernunft noch eine weitere Facette. Die Forderungen an die Italiener sind selbst unter den Bedingungen der Austeritätsfanatiker in Brüssel und Berlin total überzogen. Darauf weist Linken-Politiker Fabio De Masi hin. Er schreibt:
„Deutschland, Frankreich, Spanien – sie alle haben bereits folgenlos gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstoßen, während Italien sogar unter der Defizitvorgabe bleibt. Italien erwirtschaftet selbst mit 2,4 Prozent Defizit Haushaltsüberschüsse vor Zinsen (Primärüberschüsse). Laut OECD hat das Land auch wie kaum eine andere große Volkswirtschaft orthodoxe Strukturreformen umgesetzt – also Deregulierung des Arbeitsmarktes, Privatisierungen sowie Lohn- und Rentenkürzungen.„
Es geht bei Italien also weder um Vernunft, noch um die Einhaltung von absurden Vorgaben, sondern einzig und allein darum, die Muskeln spielen zu lassen, weil die niedergetrampelte Demokratie nicht zu den gewünschten marktkonformen Wahlergebnissen und dem entsprechenden Regierungshandeln führt. Es sind also nicht die Italiener, die Amok laufen, sondern Politiker und Journalisten hierzulande, die nach 13 Jahren Merkel offenbar jeden Bezugsrahmen zur Demokratie verloren haben.
NOV
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.